Burgdorf, Sylvester 1880.
D Bester Freund!
Dank, tausend Dank für das Lebenszeichen, das du endlich von Dir gabest, deinen von mir schon längst sehnlich erwarteten Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Moritz Dürr, 30.12.1880.. Ich kann
Dir nicht sagen wie groß meine Freude endlich wieder nach so langem/r/
Zeit etwas von d/D/ir zu vernehmen.
Du muthest mir aber zu viel, wenn du meintstSchreibversehen, statt: meinst. ich solle
interessanten inhaltsreichen Brief lateinisch beantworten so bin geübt
bin ich dann in dieser todten Sprache doch noch nicht daß ich ohne Weiters
einen Brief hinschreiben könnte. Hingegen wunderts mich nicht
& wird mich sehr freuen wenn Du es thust. Von einem so talentvollen,
geistreichen Jüngling kann man es schon erwarten.
Leider kann ich Dir nicht eben so | Interessantes
& solche Liebesabenteuer aus meiner nun ¾ jährlichen Fuxenzeitbegonnen mit dem Schuljahr 1880/81 im Frühjahr 1880 – Fux (dt. Fuchs) wurden Schüler in der zweiten Klasse des Gymnasiums und Studenten im ersten Semester genannt. Auch die neuen Mitglieder von Studentenverbindungen und eidgenössischen Schülervereinen werden bis zur Burschenprüfung (nach 1 bis 3 Semestern) so bezeichnet. erzählen, – die 4. unterste
Klasse zählt nicht zum obern Gymnasium & darf noch keine Wirthshäuser besuchenAuch an der Kantonsschule Aarau war der Besuch der Wirtshäuser den Schülern erst mit dem Eintritt in die zweite Klasse des (oberen) Gymnasiums erlaubt [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule (Schuljahr 1880/81). Aarau 1881, S. 8].
– da hier ein hierSchreibversehen, statt: hier ein. ganz
philiströsesunstudentisches, (spieß)bürgerliches., prosaischeshier im Sinne von: langweiliges. Leben herrscht.
Erstens schon kein VereinIn Aarau gab es dagegen den Kantonsschülerturnverein KTV Aarau, die Industria und die Argovia. Die eidgenössischen Schülervereine hatten Sitten und Gebräuche von den Studentenverbindungen übernommen, hielten wöchentliche Sitzungen und Kneipen ab.e
wie soll dann da ein geselliges fröhliches Leben entstehen. Ich gäbe viel,
ich/da/rum wenn ich Deine lustige heitere Jünglingszeit mit Dir
theilen könnte. Außer einem alljährlichen MaturitätswixAbiturabschlussfeier, bei der die Verbindungsschüler und die Wildenschaft (die zu keiner Verbindung gehörenden Schüler) ihre Trachten (Wixe) trugen; das nach Regularien mit Festrede, Liedern und witzigen Redebeiträgen veranstaltete Trinkgelage (Kommers), zu dem auch die Schüler der unteren Klassen eingeladen waren, fand an der Kantonsschule Aarau traditionell am Abend der Zeugnisübergabe statt [vgl. Staehelin 2002, S. 75 u. 204]. fällt da nicht viel nicht neues
vor. Die schäbigen diesen Herbst austretenden A/R/eal-AbiturientenAbiturienten mit neusprachlich-naturwissenschaftlicher Ausrichtung, die im Herbst eines Schuljahres ihre Abiturprüfungen machten. gaben, weil sie den Literanerndie Schüler des humanistischen (altsprachlichen) Gymnasiums. Ihre Abiturprüfungen fanden im Frühjahr statt. nicht ganz grün
sind auch keinen Mauleselin der Studentensprache „einer der nicht mehr gymnasiast und noch nicht student ist“ [DWB, Bd. 12, Sp. 1802].-Wix
zum Besten. Ende des letzten Sommerquartals war doch wenigstens ein sog.„ Schlußakt“ an dem auch die Leistennicht ermittelt. eingeladen wurden. Einzig im Sommer ging’s
noch einigermaßen erträgl. zu indem, wie ich Dir schon
erzählt habe, circa alle | 3 Wochen ein samstagabendlicher Kneipabend stattfand
aber blos bis gegen 10, 11, Uhr dauerte & dazu noch außerhalb der Stadt in
einem Dorfe, ½ Stunde entfernt aber immer ging’s anständig zu & Abenteuer
wie Du, habe ich leider noch nicht erlebt aber s’ wird schon kommen; man ist
noch jung. Auf den bevorstehenden Maturitätswixzum Schuljahresende im Frühjahr 1881. freu’ ich mich schon
lang, es soll da immer lustig hergehen*) *da auch Studenten von Bern kommen &
wird die ganze Nacht durch geschwärmt. Bei unsern Kneipereien wechseln dann
Einzelvorträge mit allgem. CantüssernStudentenlieder. & oft ergötze ich meine Comilitonen mit
humoristischen Zeichnungen, Travestien„(v. ital. travestire, »verkleiden«), eine humoristische (auch wohl satirische) Dichtungsart, in der ein poetisches Erzeugnis von ernstem oder erhabenem Inhalt dadurch ins Komische gezogen wird, daß sein Inhalt beibehalten, aber in eine zu seinem ernsten Charakter nicht passende äußere Form gekleidet (verkleidet, daher der Name) wird“ [Meyers Großes Konversationslexikon (6. Auflage, 1905–1909), Bd. 19, S. 684]. etc. Schon in den
denSchreibversehen, statt: den. untern Classen mußt ich mit meinem Stift ihnen oft zu Hülfe eilen
& Zeichnungen liefern. Da würde mir denn oft Dein großes Dichtertalent zu
statten kommen.
[Zeichnung
eines Kneiptisches] |
Ende dieses Quartals hat leider eineSchreibversehen, statt: ein. solcher Schlußakt nicht
stattfinden können wegen dem Hinscheid
eines bei uns sehr beliebten Lehrers, der Pfarrer HeuerPfarrer Albert Heuer war am 19.12.1880 verstorben., der dieSchreibversehen, statt: der. am Gymnasium die deutschen Stunden ertheilte. In der
Schule selbst nun sind wir auf der gleichen Stufe wie ihr1877 hatten die Kantone die Anforderungen an die Maturität vereinheitlicht [vgl. HLS, Realschule in: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010426/2012-08-09/].er/./ Im Sommer wurden Homer Livius & Vergil. In den Privatlektüren Cicero’s Catilinarische Reden
& Xenophon’s
Cyropaedie
traktirt. Im Herbst kam dann noch dazu Herodot & Cicero pro Archias & auch das Nibelungenlied. Daneben
treibt man auch Physick, NaturkundeIm Schuljahr 1880/81 wurde an der Kantonsschule Aarau in den genannten Fächern unterrichtet: (1) Deutsch u.a. das Nibelungenlied (nach der Edition von Lachmann) I-IV. (2) Latein: Livius, Ab urbe Condita libris XXVII,34-51; XXVIII,1-37 (kursorisch) und 38-46; XXIX „zum größten Theil“; XXX. (3) Griechisch: Homer, Odyssee I-IV; Herodot I, 1-7, 16-55, 59-91, 95-100. (4) Naturgeschichte, Zoologie: „Charakteristik der interessantesten Hauptgruppen des Thierreichs in aufsteigender Reihenfolge mit einer vergleichenden Uebersicht des gesammten Thierreichs und mit Uebungen im Beschreiben und Bestimmen. Anleitung zum Anlegen von kleinen Thiersammlungen.“ Weitere Fächer waren Französisch, Religion, Geschichte, Mathematik, Kunstzeichnen [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1881, S. 16f., Zitat S. 17]. & ich am mit besonderer Freude
auch das facultative
ItalienischDen freiwilligen Sprachunterricht hatte Wedekind vom Frühjahr 1879 bis zum Sommer 1880 belegt und mit der Note 4-5 abgeschlossen [vgl. Aargauische Kantonsschule Gymnasium. Zeugnissheft für Franklin Wedekind, in: Aargauer Kantonsbibliothek, Wedekind-Archiv, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170].. Eben ist einer der angenehmen Zeitpunkte des Schullebens
da, die Ferien & fröhlichenSchreibversehen, statt: fröhlich.
strömen alle ihrer Heimath zu das finstere G/S/chulhaus öde lassend. Ich
denke diese Zeilen werden Dich jetzt wohl auch zu Hause bei Deinen l/L/ieben
treffen. Ich glaube nicht daß ich so bald, wie Du hoffest nach Lenzburg kommen werde.
Wenn ich nämlich früher oft Lenzburg besuchte so geschah es des Großvaters sel.Der Lenzburger Arzt Rudolf Häusler war am 19.1.1879 verstorben [vgl. Reinhold Bosch. Der deutsche Dichter Jos. Viktor Scheffel und das Seetal. (Seetal) 1963, S. 35]. wegen,
der uns/imme/r seine Freude hatte wenn seine Großkinder ihn
besuchten. Hingegen werden nächster Woche meine | Mutter & meine Schwester hinunter kommen an den SandwegDort stand das Haus des verstorbenen Großvaters. & würde meine Mutter
freuen Deine Bekanntsch. zu machen. Also! hüpf dann mal
vom Bergerl runter! Deine Selbstanklage in Deinem Briefe wegen ab/Ab/weichung
von unserm Freundschaftsbund halte ich für ungerechtfertigt, da der Fehler
ebenso viel auf meiner Seite liegt. Deinen Brief vom Winter 78/79nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Moritz Dürr, 31.12.1878.
habe ich damals richtig erhalten & irrst Du Dich wenn Du meinst ich
hätte nicht daran verloren. Denn beide Briefe haben mir sehr viel Freude
bereitet & ich bewundere in beiden Deinen guten Styl & Deine gewandte
Feder, was Du bei mir nicht finden kannst, da Du weißt daß ich immer weiter
/h/inter Deinen Talenten blieb. |
Ich schließ indem ich Di/noch die besten
Wünsche zum neuen Jahr einschließ so leb’ denn wohl herzlichst geliebter Freund
& flotter
[Zeichnung
eines Schülers in Uniform] !
Moriz Dür
v/o GüggelBier- oder Kneipname Moritz Dürrs.
P. S. Ich sende Dir hier
noch eine Merkwürdigkeit die mir da gerade unter die Hände kommt. Mit solchen
Zetteln bestraft man nämlich in
den untern Klassen & diese müssen von den Eltern
unterschrieben & wieder abgegeben werden aber nur in den unter KlassenSchreibversehen, statt: unteren Klassen. Die drei unteren Klassen waren Sexta (Sechste), Quinta (Fünfte), Quarta (Vierte), die drei oberen Klassen Tertia (Dritte), Sekunda (Zweite), Prima (Erste). An der Kantonsschule gab es stattdessen ein Progymnasium mit erster und zweiter Klasse sowie das Gymnasium und die Gewerbeschule, die jeweils die Klassen I bis IV umfassten. bis & mit
der ((latein))Quarta((latein)). Diesen Arrest habe ich f/a/ber damals
nicht abgesessen & da ist also der Zettel noch
Was ist auch aus all’ den Lenzburger: Schulkameraden geworden
[Beilage:]
Arrest-Zeddel.
Moritz Dürr IV
erhält
den 8/II von 2 bis
4 Uhr Arrest.
Grund: Hat nach
geschehener Verwarnung das Lehrerpult mit Zeichnungen bedeckt
Burgdorf, den 3/II 1879
Der
bestrafende Lehrer: Winteler, Klassenlehrer.
Dieser
Arrestzeddel ist eingesehen worden von:
Moriz Dürfünfmal durchgestrichen.
IVfünfmal durchgestrichen.
Nachdem
der Arrestzeddel unterschrieben, ist derselbe im Abwartzimmer abzugeben.