Kennung: 2235

Burgdorf, 31. Dezember 1880 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Dürr, Moritz

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Burgdorf, Sylvester 1880.


D Bester Freund!

Dank, tausend Dank für das Lebenszeichen, das du endlich von Dir gabest, deinen von mir schon längst sehnlich erwarteten Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Moritz Dürr, 30.12.1880.. Ich kann Dir nicht sagen wie groß meine Freude endlich wieder nach so langem/r/ Zeit etwas von d/D/ir zu vernehmen.

Du muthest mir aber zu viel, wenn du meintstSchreibversehen, statt: meinst. ich solle interessanten inhaltsreichen Brief lateinisch beantworten so bin geübt bin ich dann in dieser todten Sprache doch noch nicht daß ich ohne Weiters einen Brief hinschreiben könnte. Hingegen wunderts mich nicht & wird mich sehr freuen wenn Du es thust. Von einem so talentvollen, geistreichen Jüngling kann man es schon erwarten.

Leider kann ich Dir nicht eben so | Interessantes & solche Liebesabenteuer aus meiner nun ¾ jährlichen Fuxenzeitbegonnen mit dem Schuljahr 1880/81 im Frühjahr 1880 – Fux (dt. Fuchs) wurden Schüler in der zweiten Klasse des Gymnasiums und Studenten im ersten Semester genannt. Auch die neuen Mitglieder von Studentenverbindungen und eidgenössischen Schülervereinen werden bis zur Burschenprüfung (nach 1 bis 3 Semestern) so bezeichnet. erzählen, – die 4. unterste Klasse zählt nicht zum obern Gymnasium & darf noch keine Wirthshäuser besuchenAuch an der Kantonsschule Aarau war der Besuch der Wirtshäuser den Schülern erst mit dem Eintritt in die zweite Klasse des (oberen) Gymnasiums erlaubt [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule (Schuljahr 1880/81). Aarau 1881, S. 8]. – da hier ein hierSchreibversehen, statt: hier ein. ganz philiströsesunstudentisches, (spieß)bürgerliches., prosaischeshier im Sinne von: langweiliges. Leben herrscht. Erstens schon kein VereinIn Aarau gab es dagegen den Kantonsschülerturnverein KTV Aarau, die Industria und die Argovia. Die eidgenössischen Schülervereine hatten Sitten und Gebräuche von den Studentenverbindungen übernommen, hielten wöchentliche Sitzungen und Kneipen ab.e wie soll dann da ein geselliges fröhliches Leben entstehen. Ich gäbe viel, ich/da/rum wenn ich Deine lustige heitere Jünglingszeit mit Dir theilen könnte. Außer einem alljährlichen MaturitätswixAbiturabschlussfeier, bei der die Verbindungsschüler und die Wildenschaft (die zu keiner Verbindung gehörenden Schüler) ihre Trachten (Wixe) trugen; das nach Regularien mit Festrede, Liedern und witzigen Redebeiträgen veranstaltete Trinkgelage (Kommers), zu dem auch die Schüler der unteren Klassen eingeladen waren, fand an der Kantonsschule Aarau traditionell am Abend der Zeugnisübergabe statt [vgl. Staehelin 2002, S. 75 u. 204]. fällt da nicht viel nicht neues vor. Die schäbigen diesen Herbst austretenden A/R/eal-AbiturientenAbiturienten mit neusprachlich-naturwissenschaftlicher Ausrichtung, die im Herbst eines Schuljahres ihre Abiturprüfungen machten. gaben, weil sie den Literanerndie Schüler des humanistischen (altsprachlichen) Gymnasiums. Ihre Abiturprüfungen fanden im Frühjahr statt. nicht ganz grün sind auch keinen Mauleselin der Studentensprache „einer der nicht mehr gymnasiast und noch nicht student ist“ [DWB, Bd. 12, Sp. 1802].-Wix zum Besten. Ende des letzten Sommerquartals war doch wenigstens ein sog.„ Schlußakt“ an dem auch die Leistennicht ermittelt. eingeladen wurden. Einzig im Sommer ging’s noch einigermaßen erträgl. zu indem, wie ich Dir schon erzählt habe, circa alle | 3 Wochen ein samstagabendlicher Kneipabend stattfand aber blos bis gegen 10, 11, Uhr dauerte & dazu noch außerhalb der Stadt in einem Dorfe, ½ Stunde entfernt aber immer ging’s anständig zu & Abenteuer wie Du, habe ich leider noch nicht erlebt aber s’ wird schon kommen; man ist noch jung. Auf den bevorstehenden Maturitätswixzum Schuljahresende im Frühjahr 1881. freu’ ich mich schon lang, es soll da immer lustig hergehen*) *da auch Studenten von Bern kommen & wird die ganze Nacht durch geschwärmt. Bei unsern Kneipereien wechseln dann Einzelvorträge mit allgem. CantüssernStudentenlieder. & oft ergötze ich meine Comilitonen mit humoristischen Zeichnungen, Travestien„(v. ital. travestire, »verkleiden«), eine humoristische (auch wohl satirische) Dichtungsart, in der ein poetisches Erzeugnis von ernstem oder erhabenem Inhalt dadurch ins Komische gezogen wird, daß sein Inhalt beibehalten, aber in eine zu seinem ernsten Charakter nicht passende äußere Form gekleidet (verkleidet, daher der Name) wird“ [Meyers Großes Konversationslexikon (6. Auflage, 1905–1909), Bd. 19, S. 684]. etc. Schon in den denSchreibversehen, statt: den. untern Classen mußt ich mit meinem Stift ihnen oft zu Hülfe eilen & Zeichnungen liefern. Da würde mir denn oft Dein großes Dichtertalent zu statten kommen.


[Zeichnung eines Kneiptisches] |


Ende dieses Quartals hat leider eineSchreibversehen, statt: ein. solcher Schlußakt nicht stattfinden können wegen dem Hinscheid eines bei uns sehr beliebten Lehrers, der Pfarrer HeuerPfarrer Albert Heuer war am 19.12.1880 verstorben., der dieSchreibversehen, statt: der. am Gymnasium die deutschen Stunden ertheilte. In der Schule selbst nun sind wir auf der gleichen Stufe wie ihr1877 hatten die Kantone die Anforderungen an die Maturität vereinheitlicht [vgl. HLS, Realschule in: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010426/2012-08-09/].er/./ Im Sommer wurden Homer Livius & Vergil. In den Privatlektüren Cicero’s Catilinarische Reden & Xenophon’s Cyropaedie traktirt. Im Herbst kam dann noch dazu Herodot & Cicero pro Archias & auch das Nibelungenlied. Daneben treibt man auch Physick, NaturkundeIm Schuljahr 1880/81 wurde an der Kantonsschule Aarau in den genannten Fächern unterrichtet: (1) Deutsch u.a. das Nibelungenlied (nach der Edition von Lachmann) I-IV. (2) Latein: Livius, Ab urbe Condita libris XXVII,34-51; XXVIII,1-37 (kursorisch) und 38-46; XXIX „zum größten Theil“; XXX. (3) Griechisch: Homer, Odyssee I-IV; Herodot I, 1-7, 16-55, 59-91, 95-100. (4) Naturgeschichte, Zoologie: „Charakteristik der interessantesten Hauptgruppen des Thierreichs in aufsteigender Reihenfolge mit einer vergleichenden Uebersicht des gesammten Thierreichs und mit Uebungen im Beschreiben und Bestimmen. Anleitung zum Anlegen von kleinen Thiersammlungen.“ Weitere Fächer waren Französisch, Religion, Geschichte, Mathematik, Kunstzeichnen [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1881, S. 16f., Zitat S. 17]. & ich am mit besonderer Freude auch das facultative ItalienischDen freiwilligen Sprachunterricht hatte Wedekind vom Frühjahr 1879 bis zum Sommer 1880 belegt und mit der Note 4-5 abgeschlossen [vgl. Aargauische Kantonsschule Gymnasium. Zeugnissheft für Franklin Wedekind, in: Aargauer Kantonsbibliothek, Wedekind-Archiv, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170].. Eben ist einer der angenehmen Zeitpunkte des Schullebens da, die Ferien & fröhlichenSchreibversehen, statt: fröhlich. strömen alle ihrer Heimath zu das finstere G/S/chulhaus öde lassend. Ich denke diese Zeilen werden Dich jetzt wohl auch zu Hause bei Deinen l/L/ieben treffen. Ich glaube nicht daß ich so bald, wie Du hoffest nach Lenzburg kommen werde. Wenn ich nämlich früher oft Lenzburg besuchte so geschah es des Großvaters sel.Der Lenzburger Arzt Rudolf Häusler war am 19.1.1879 verstorben [vgl. Reinhold Bosch. Der deutsche Dichter Jos. Viktor Scheffel und das Seetal. (Seetal) 1963, S. 35]. wegen, der uns/imme/r seine Freude hatte wenn seine Großkinder ihn besuchten. Hingegen werden nächster Woche meine | Mutter & meine Schwester hinunter kommen an den SandwegDort stand das Haus des verstorbenen Großvaters. & würde meine Mutter freuen Deine Bekanntsch. zu machen. Also! hüpf dann mal vom Bergerl runter! Deine Selbstanklage in Deinem Briefe wegen ab/Ab/weichung von unserm Freundschaftsbund halte ich für ungerechtfertigt, da der Fehler ebenso viel auf meiner Seite liegt. Deinen Brief vom Winter 78/79nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Moritz Dürr, 31.12.1878. habe ich damals richtig erhalten & irrst Du Dich wenn Du meinst ich hätte nicht daran verloren. Denn beide Briefe haben mir sehr viel Freude bereitet & ich bewundere in beiden Deinen guten Styl & Deine gewandte Feder, was Du bei mir nicht finden kannst, da Du weißt daß ich immer weiter /h/inter Deinen Talenten blieb. |

Ich schließ indem ich Di/noch die besten Wünsche zum neuen Jahr einschließ so leb’ denn wohl herzlichst geliebter Freund & flotter


[Zeichnung eines Schülers in Uniform] !


Moriz Dür
v/o GüggelBier- oder Kneipname Moritz Dürrs.


P. S. Ich sende Dir hier noch eine Merkwürdigkeit die mir da gerade unter die Hände kommt. Mit solchen Zetteln bestraft man nämlich in den untern Klassen & diese müssen von den Eltern unterschrieben & wieder abgegeben werden aber nur in den unter KlassenSchreibversehen, statt: unteren Klassen. Die drei unteren Klassen waren Sexta (Sechste), Quinta (Fünfte), Quarta (Vierte), die drei oberen Klassen Tertia (Dritte), Sekunda (Zweite), Prima (Erste). An der Kantonsschule gab es stattdessen ein Progymnasium mit erster und zweiter Klasse sowie das Gymnasium und die Gewerbeschule, die jeweils die Klassen I bis IV umfassten. bis & mit der ((latein))Quarta((latein)). Diesen Arrest habe ich f/a/ber damals nicht abgesessen & da ist also der Zettel noch

Was ist auch aus all’ den Lenzburger: Schulkameraden geworden


[Beilage:]


Arrest-Zeddel.


Moritz Dürr IV

erhält den 8/II von 2 bis 4 Uhr Arrest.


Grund: Hat nach geschehener Verwarnung das Lehrerpult mit Zeichnungen bedeckt

Burgdorf, den 3/II 1879


Der bestrafende Lehrer: Winteler, Klassenlehrer.


Dieser Arrestzeddel ist eingesehen worden von:


Moriz Dürfünfmal durchgestrichen.
IVfünfmal durchgestrichen.


Nachdem der Arrestzeddel unterschrieben, ist derselbe im Abwartzimmer abzugeben.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Brief: Kurrent. Beilage: Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Brief: Papier. 1 Doppelblatt. 4 Seiten beschrieben. Seitenmaß 11 x 17,5 cm. Kariertes Papier. 1 Doppelblatt. 2 Seiten beschrieben. Seitenmaß 10,5 x 18 cm. Beilage: 1 Blatt. Formular. 17,5 x 11 cm. Alle gelocht.
Schreibraum:
Brief: Im Hochformat beschrieben. Beilage: Im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Brief: Auf Seite 1 befindet sich ein aufgedrucktes Monogramm mit der Initiale „D“. Mit rotem Buntstift sind am linken Rand die drei Zeilen „freuen wenn Du […] es schon erwarten“ markiert, auf Seite 2 die Zeile „Interessantes & solche Liebesabenteuer“ und drei Zeilen „entstehen. Ich gäbe […] einem alljährlichen“.Am Fuß der Seite 3 befindet sich eine Federzeichnung Moritz Dürrs. Dargestellt ist ein Kneiptisch in der typischen Hufeisenform mit dem Präsidium vor Kopf und den älteren Burschen auf der rechten Längsseite vor ihren Bierkrügen sitzend, ihnen vis-a-vis die jüngeren Füxe, des Weiteren die gerade Vortragenden und die sich um das Bier kümmernden Laufburschen. Eine zweite Zeichnung auf Seite 6 zeigt einen Schüler in Uniform (Wix) mit halbvollem Bierglas in der Hand.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Burgdorf
    31. Dezember 1880 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Burgdorf
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 35
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Moritz Dürr an Frank Wedekind, 31.12.1880. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

03.08.2022 09:52