17.VI.14.
Lieber Herr Wedekind!
Ich wage es nicht mehr Herrn Wedekind „Du“ zu nennen, weil
ich heute von meiner Großmama einen BriefDer Brief von Marie Uhl an Friedrich Strindberg ist nicht überliefert. bekam: „Wie Du Deinen Vater verloren hast…..
Sie war in München, wird bei Dir gewesen seinWedekind war vom 23.5. bis 16.6.1914 in Berlin [vgl. Tb], so dass ein Treffen mit Marie Uhl in München nicht stattgefunden haben kann. und erfahren
haben, was ich bis jetzt nur ahnte: unsern vollständigen Bruch!
Bitte lies den Brief weiter, wenn er auch so beginnt;
bitte!!
Ich will Dir nicht mein ewiges Miserere(lat.): sich erbarmen; erstes Wort des 51. Psalms: Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam (Erbarme dich meiner, Gott, nach deiner großen Güte). Es dient bei Vokalvertonungen des Psalms als Incipit. vorjammern, das mit
meiner Mutter beginnt und kein Ende findet; ich hatte bis zu Dir keine Seele,
mit der ich mich verstehen konnte, keinen Menschen, der mich wahr liebte. Mit
meiner Schwester kam ich aus, seit ich Dich hatte, da sie mich um Deinethalben schätzte, eventuell…Ich
wurde von meiner Großmutter aus reiner Liebe schlechter und eckela/h/after
behandelt, wie ein h/H/und, nur weil ich fühle! Man drillte mir von
Jugend | auf sämtliche Verrücktheiten ein, um nur ein moralisches RückkratSchreibversehen, statt: Rückgrat. zu
verschaffen; dagegen wehrte ich mich unbewußt mit aller Gewalt, meine Großmama
sieht in mir den menschgewordenen Satan, meine Mutter ist da draußen irgendwoFrida Strindberg hielt sich seit 1908 in London auf und hatte den Kontakt zu ihren Kindern abgebrochen.
und ich?
Wenn Du halb, ein bischen Dein Wort in BerlinFriedrich Strindberg hatte seinen Vater Frank Wedekind im letzten September in Berlin kennengelernt und mit ihm dort vom 14. bis 16.9.1913 Zeit verbracht [vgl. Tb].: „Wenn Du
etwas wie/l/lst, komme zu mir“ wahrmachen wolltest, verzeihe, ich komme
zu Dir und bitte um: Liebe und Verzeihung. Liebe mit einem Menschen, dem das
Schicksal bei jedem Gut noch einen Streich gespielt hat; VerzeihungWegen Friedrich Strindbergs nicht überlieferten Stücks „Menschenrecht“ kam es zum Zerwürfnis mit seinem Vater, der einen an ihn gerichteten Erpresserbrief auf die schriftstellerische Tätigkeit seines Sohnes zurückführte [vgl. Wedekind an Friedrich Strindberg, 8.5.1914]. für das,
was ich noch nicht weiß, für – ich glaube es ist es – für das Stück! Wie gerne
fliegt es in D/d/ie Flammen, wenn ich Dich nur erhalten kann! Bedenke:
ich bin kein
Mädchen, das mit Schönheit und Klugheit weiter kommt; was ich war, weißt Du,
was ich bin: ein Häuflein Unglück. |
Wird ein Mädchen verlassen, so geht es zu einem andern; aber
ich? Ich stehe dann so nackt und bloß da, wie sonst niemand! Ich lernte,
büffelteangestrengt lernen (umgangssprachlich). im heurigen Studienjahr wie ein Ochse – um später Dir mit mir Freude
zu machen. Ich bin fest entschlossen, falls Du es über das Herz bringst mich wegzustoßen wie einen
treuen Hund, dem man lieber eine Kugel durch den Schädel jagt, als ihn (zum) davon weist, in die weite Welt
zu gehen, ohne „Einverständnis“ eine eines meiner Verwandten und zu
sehen, wie man sich fortbringt oder erhungert.
Aber wenn Du das Bewußtsein hast: mir noch ein klein wenig,
ein winziges Bischen zu schulden, so bitte ich Dich um alles, nimm mich wieder
in Deine Liebe auf,/./
Willst Du einen Menschen, der Dir doch etwas näher steht als die andern, ganz
beinahe das Leberecht nehmen; verzeihe die harten Worte aber sag mir ein gutes
Wort, | woraus ich schließen kann, daß ich Dir noch ein bischen Wert bin – ich
bin es ++ vielleicht gar nicht – und ich bin glückselig bis über alles!
Und bin ich es nicht wert, nun dann bin ich mir auch nichts mehr wert. Leben
soll der, den es freut. Ich verzichte auf das Marionettenspiel, wo man mich
allseits nur mit Füßen tritt und keiner für einen armen Teufel Gefühl hat.
Fallen muß ich, darum bin ich höchstwahrscheinlich geboren worden, we
und der liebe Gott muß auch seine Freude haben, wenn er die Menschen quälen
kann, so weit es geht. –
Ich bitte Dich, falls Du für mich auf diesen Brief ein gutes
oder schlechtes Wort hast, es mir mitzuteilen. Wir reisenFriedrich Strindberg verbrachte die Sommerferien bis zum 20.8.1914 gemeinsam mit dem Direktor seiner Schule, Josef Tschurtschenthaler, in Sexten in Südtirol [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 14.8.1914]. 27. oder 28. oder 29.
fort und kommen dann nimmer hierher!! Also ich bitte Dich um baldige Nachricht –
beinahe weinend
Dein Friedrich.