Kennung: 3986

Lenzburg, 8. Januar 1882 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar

Inhalt

Schloß Lenzburg, Januar 1882.

Lieber Freund.

Mit großem Bedauern vermißte ich an dem letzten Samstag vor Weihnachtenden 24.12.1881. eine verabredete Zusammenkunft mit Dir. Eine Reklamation wegen der Note Schlufi’smöglicherweise Spitzname für Isidor Guttentag, der am Gymnasium der Kantonsschule Aarau Griechisch unterrichtete. In Wedekinds Zeugnis (III. Quartal 1881/82) ist im Fach Griechisch eine „2-1“ (statt „1-2“) eingetragen, was auf eine nachträgliche Korrektur hinweisen könnte [vgl. Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170]. – Auf die mögliche Kollision mit dem Treffen wies Wedekind schon in einem früheren Brief hin [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 18.12.1881]. in meinem Zeugniß hielt mich davon ab, Dich an jenem Morgen aufzusuchen. Desto mehr freuten mich Deine l. Wortevgl. Oskar Schibler an Wedekind, 1.1.1882. am beim Jahreswechsel und der Bericht Deines Bruders AlfredAlfred Schibler, der jüngere Bruder Oskar Schiblers, war nicht Schüler der Kantonsschule, dürfte aber in Aarau bei den Eltern gelebt haben., daß Du ein exemplarisch gutes Zeugniß erhalten habest. Ich gratulire Dir von ganzen Herzen zu dieser Errungenschaft und habe mir vorgenommen, ihr mit allen Kräften nachzueifernDas gelang; Wedekind steigerte seine Leistungen, so dass sein Versetzungszeugnis im Frühjahr 1881/82 keine 4 oder 5 enthielt, sein Betragen mit der Note „sehr gut“ beurteilt und er „definitiv promovirt“ wurde. Erst im 4. Quartal 1882/83 ließen seine Leistungen wieder merklich nach und auf seinem Zeugnis stand der Vermerk „provisorisch promovirt“ [vgl. Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170].. Es | können solche Bestrebungen u. ihre Folgen nur guten Einfluß auf unsere Freundschaftsverbindung haben und es wäre dann unsere jetzige Trennung nur ein kleines Hinderniß, gegen diejenigen, die während unseres Zusammensein’s uns im w/W/ege lagen.

OhneVor dem Wort befindet sich, durch zwei senkrechte Striche gekennzeichnet, eine Absatzmarkierung. Zweifel interessirt es Dich, zu erfahren, daß UphuesAm 18.12.1881 hatte Wedekinds Deutschlehrer, Prof. Goswin Karl Uphues, die Aargauer Kantonsschule verlassen, um in Breslau die Direktion der höheren Töchterschule zu übernehmen. nun einen Stellvertreter bis im nächsten Mai in HE. Hans HerzogGoswin Karl Uphues wurde „seit Neujahr vertreten durch Hrn. Cand. Phil. Herzog, für deutsche Sprache und Litteratur am Gymnasium, für Griechisch an Cl. IV Gymnasii“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1881/82, S. 5]. Hans Herzog hatte in Zürich und Leipzig Germanistik und Geschichte studiert und stand kurz vor dem Abschluss seiner Promotion (1882). Seit 1881 war er am Staatsarchiv beschäftigt; 1885 wurde er Staatsarchivar, 1889 Leiter der Kantonsbibiothek. und einen Nachfolger alsdann in HE. FreyAdolf Frey aus Gontenschwyl, der in Zürich, Bern (Promotion 1878), Leipzig und Berlin studiert hatte und mit Gottfried Keller und C.F. Meyer befreundet war, wurde im neuen Schuljahr 1882/83 Wedekinds Deutschlehrer an der Kantonsschule Aarau und Privatdozent an der Universität Zürich. Die Presse berichtete über seine am 4.1.1882 erfolgte Wahl [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 28, Nr. 5, 6.1.1882, S. (1)]. stud. in Berlin gefunden hat. Ich weiß nicht ob d/D/u diesen Frey kennst; er ist der Sohn des gleichnamigen schweizerischen SchriftstellersVater von Adolf Frey war der Volksschriftsteller und Redakteur Jakob Frey, der vor seinem Tod einige Jahre in Aarau gelebt hatte. und soll gegenwärtig ein guter Freund von Albert FleinerAlbert Fleiner war der älteste Bruder von Martha Fleiner, für die Frank Wedekind und sein Schulfreund Walter Laué schon 1880 geschwärmt hatten [vgl. die Korrespondenz mit Walter Laué]. Die Freundschaft zwischen Albert Fleiner und Wedekinds künftigem Deutschlehrer Adolf Frey dürfte auf die gemeinsame Jugend im Aargau zurückgehen. Denn Adolf Frey hatte seinen jüngeren Bruder Alfred Frey und dessen gleichaltrigen Freund Albert Fleiner seit dem Sommer 1878 zum Studium der Rechte und Nationalökonomie an die Universitäten Zürich, Leipzig und Berlin begleitet. Im Frühjahr 1882 kehrte Adolf Frey nach Aarau zurück. Seit etwa 1883 arbeitete Albert Fleiner zunächst sehr erfolgreich als Redakteur, dann als Kunstkritiker durchaus umstritten bei der Neuen Zürcher Zeitung. Er starb 1902 in Rom [vgl. u.a. Zur Erinnerung an Albert Fleiner. Geboren den 10. August 1859 in Aarau. Gestorben den 17. Juni 1902 in Rom. https://doi.org/10.20384/zop-133, 23.6.2021]. in Berlin sein. Der VegaHauptstern des Sternbilds Leier; vermutlich Biername des Mathematik- und Physiklehrers Prof. Dr. Hermann Krippendorf, dem die erbetene Entlassung zu Ostern 1882 gewährt wurde [vgl. Programm der Aargauer Kantonsschule 1882, S. 6]. Auch die Presse berichtete: „Aargau. Die Regierung hat dem Professor Dr. H. Krippendorf die von ihm nachgesuchte Entlassung als Lehrer an der aargauischen Kantonsschule unter bester Verdankung der geleisteten Dienste ertheilt.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 62, Nr. 5, 5.1.1882, Erstes Blatt, S. (2)]. hat „mit Verdankung seiner geleisteten Dienste“ nun endlich auf nächsten Frühling seine | Entlassung erhalten.

Dieses ist so ziemlich das Mus/Neus/te Neueste aus unserer Musenstadt. Du wirst mir nun dasjenige aus Solothurn schreiben, was mich vielleicht interessiren könnte. Wie stehst Du nunmehr Deinen Comilitonen gegenüber? – Ich bitte Dich, bleibe Deinem Vorsatz treu, geh in keinen Verein, in keine ZofingiaOskar Schibler dachte über seinen Eintritt in den Schülerverein der Kantonsschule Solothurn nach [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 15.11.1881].. Es befremdet Dich diese WahrnungSchreibversehen, statt: Warnung. vielleicht, aberseiSchreibversehen, statt: aber sei. überzeugt, sie kommt aus treuer Seele.

Du bittest mich in Deiner Karteeine Visitenkarte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 1.1.1882]., eine Streitfrage anzuregen und mit Freuden ergreife ich diese Gelegenheit, um unsere Correspondenz ein wenig flüssig zu machen. Es sind mir 2 solche Fragen eingefallen, die dich gewiß interessiren werden. | Dies erste lautet:

Welche Empfindungen hat ein schönes Mädchen bei ungestörter Betrachtung ihres Körpers? – Denke nun darüber nach ob, wie, und warum die Empfindungen dieses Mädchens gleich, oder verschieden sind von den Empfindungen des Jünglings, der denselben gleichen weiblichen, schönen Körper betrachtet. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Ich habe schon einigermaßen darüber nachgedacht; bin aber noch weit davon entfernt sie beant lösen zu können. Ich will Dich aber jetzt schon auf die weitgreifenden Folgen der Lösung aufmerksammachen. Wenn nämlich erwiesen werden kann, daß die Gefühle derSchreibversehen, statt: des. Mädchens gleich, oder auch nur ähnlich sind denjenigen des Jünglings, so ist da fällt damit die | Unschuld des Weibes vollständig in Nichts zusammen und ist geradezu unmöglich. – Das wäre eine große Entdeckung!!!

Nun die zweite Frage:

Du weißt wohl, daß sich in allen Irrenhäusern unter den vielen hunt/d/erten Unglücklichen auch wahrhaft glückliche befinden, welche in de kindlicher Einfalt die Welt nur in einem ideal vollkommenen Lichte sehen, keinen schlechten d Menschen kennen und in Folge dieses Glückswahns ihres kranken Gehirnes nur Tage der Freude d erleben. Nun kommt da ein gelat/a/rtesSchreibversehen, statt: gelahrtes (gelehrtes). Haus, ein der ArtztSchreibversehen, statt: Arzt. und fö/i/ndet, daß der Glückliche krank sei. Er wendet nun seinen ganzen Witzim Sinne von: Geist, Vernunft. an, um das glückli seelige Geschöpf, das die V gütige Vorsehung ausnahmsweise mit dem | Fluche verschont hat, Mensch zu sein, – um dieses seelige Geschöpf, sage ich, in einen unglücklichen Menschen zu verwandeln, um/nd/ den der/s/ Bösen Unbewußten in den Fehlern u. Lastern der Menschheit zu unterrichten und ihm die Augen zu öffnen, daß er sehe was gut u. böse ist. Es entsteht nun die Frage, ob das Bestreben des Artztes zu billigen oder zu verfluchen ist? – E Die Antwort scheint nahe zu liegen. Sie ist aber dennoch nicht leicht zu finden; denn Bedenke, daß der Artzt, gelingt ihm sein Vorhaben, aus einem Sclaven der Natur einen freien Mann geschaffen hat. Über diese Frage habe ich noch gar nicht nachgedacht, und ich bin desto mehr auf Dein weises Urtheil gespannt. Ich h Wähle dir nun eine dieser | Probleme zur Besprechung in unseren künftigen Briefen aus. Ich hoffe daß d/D/ir entweder das eine picant, oder dann das andere interressantSchreibversehen, statt: interessant. genug scheint, daß Du es Deiner eines davon, deiner Einsicht würdigest.

Es ist jetzt zwei Uhr in der Nacht, die Augen fallen mir zu und mein Papier geht zu Ende. Vor 4 Stunden hatte ich daßSchreibversehen, statt: das. Vergnügen die „Karlsschüler“ (von Laube) in Lenzburg über die Bretter gleitenim 1. Stock des Lenzburger Gemeindesaals; vermutlich handelt es sich um eine Aufführung des Lenzburger Laientheaters [vgl. Kieser 1990, S. 117ff]. zu sehen. Ich sah den Tyrannen Carl von Würtemberg; ich sah ein fühlendes Weib in Francisca von Hohenheim und ich sah den leibhaftigen Schiller, den freien Dichter. Der freie Dichter besiegt den Tyrannen, aber er legt seinen LorbeerK/kra/nz zu Füßen des schönen Weibes, denn ihm hat er den Sieg | zu verdanken. Die natürliche Menschlichkeit Franziskas bildet eine Brücke üb zwischen den Extremen: Freiheit und Sclaverei, auf der sie sich berühren können und erkennen können. So siegte die Freiheit.

Nun lebe wohl. Sei guten Muthes und schreibe mir recht bald. Du hast Stoff genug und Zeiht wirst Du auch finden wenn Du bedenkst daß es jetzt 2 Uhr Nachts ist.

Die besten Grüße an Dich von meinen Eltern und ein derber Bruderkuß und Handschlag von Deinem treuen Freund
Franklin Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. 2 Doppelblätter. Seitenmaß 13 x 21 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die 4. Seite des ersten Doppelblatts wurde von Wedekind mit einer „4“ und die 1. Seite des zweiten Doppelblatts mit einer „5“ versehen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 8.1.1882 ist als Ankerdatum gesetzt. Wedekind antwortet auf den Neujahrsgruß des Freundes [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 1.1.1882] und erwähnt darin die Annahme des Rücktrittsgesuchs von Prof. Dr. Hermann Krippendorf, das am 5.1.1882 in der Presse vermeldet wurde. Da als Schreibort Lenzburg angegeben ist, dürfte Wedekind an einem Wochenende geschrieben haben. Das früheste mögliche Schreibdatum, von dem Monat („Januar“) und Jahr („1882“) gegeben sind, ist nach den genannten Ereignissen Sonntag („zwei Uhr in der Nacht“), der 8.1.1882.

  • Schreibort

    Lenzburg
    8. Januar 1882 (Sonntag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Solothurn
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 8.1.1882. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

08.02.2023 11:28