Samstag Nachmittag Juni 1883.
Lieber Franklin!
Schon wieder wirst Du verurtheilt eine meiner EpistelnHinweis auf den vorliegenden und mindestens einen früheren, nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Minna von Greyerz an Wedekind, 26.5.1883. zu lesen, was ich um so
mehr bedaure, da ich Dir nichts weniger als etwas Angenehmes zu melden habe.
„Der
Anfang in der RegelZitat („Der Anfang in der Regel ist das Schwerste“) aus Wedekinds Gedicht: Wie man sich in Aarau auf das Eidgenössische Turnfest rüstet [KSA 1/I, S. 59]. ist
das Schwerste“, besonders wenn man nicht weiß, wie seine Rede hübsch
einzukleiden; eben deßhalb bin ich froh, Dir mein Anliegen „auf diesem nichtZitat („auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege“) aus der Opernparodie in 2 Akten „Martha, oder: Auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege“ (Leipzig 1877) des Komponisten und Musiklehrers Hermann Kipper. mehr
ungewöhnlichen Wege“ zu offenbaren, so komme ich weniger in
Verlegenheit u Du kannst Deine Miene ungenirt verziehen vor – weiß ich was.
Also nach dieser ungefähren Einleitung will ich jetzt mit der Thür’ in’s Haus
fallen: Ich habe noch mehr Zwirn nöthig, stelle Dir vor, 3 wirklich, drei
Knäuel sollte ich noch haben, es ist zum Davonlaufen. Darf’s ich Dich
wohl noch einmal, hoffentlich zum letzten Mal, darum bitten, mir dies zu
besorgen? Ich wäre Dir sehr dankbar, d. h. den Dank begehrst Du | wohl
nicht, nun gut, so magst Du meinetwegen etwelche „DonnerwetterZitat („Donnerwetter“ auf mich beschwören) möglicherweise aus Georg Dörings Novelle „Rettung in der höchsten Noth“: „Laßt mich im Augenblick frey und unaufgehalten weiter ziehen, oder ich werde bey der nächsten Obrigkeit ein Donnerwetter auf euer Haupt beschwören, vor dem ihr zittern sollt!“ [Penelope. Taschenbuch für das Jahr 1827. Jg. 16, (Leipzig), S. 253]“ auf mich
beschwören, oder ich erlaube Dir, mich das nächste Mal zu ohrfeigen, kurz ich
bin ganz dehmüthigSchreibversehen, statt: demütig.,
soweit ich DehmuthSchreibversehen, statt: Demuth.
begreifen kann. Verzeihe meine steten Anliegen, Du denkst am Ende, ich wolle
Dich für dergleichen mißbrauchen und hast vielleicht nicht einmal recht Zeit, eh bien(frz.) nun; na., Du mußt nicht, Du sollst Dich
selbst als liebenswürdiger Vetter nicht verpflichtet fühlen, nur wenn Du willst
so gut sein. Ach Gott, ich mache Dir wohl nur zu viel Worte, aber das liegt
eben meist in unsrer Natur, diese weitberühmte allbekannte Schwäche des
weiblichen Geschlechts. Also noch drei Knäuel à
80 Cts. vom selben Bindfaden,
dessen Muster ich mir nochmals beizulegen erlaube.
Um noch von etwas anderm zu sprechen, möchte ich Dir
beiläufig bemerken, daß ich es vollkommen begreife, wenn Du dem ersten Satznicht ermittelt. v.
Richtergemeint ist vielleicht der Philosoph Heinrich Ferdinand Richter, der in seiner Schrift „Über das Gefühlsvermögen“ (Leipzig 1824) zu den Themen ‚Wollen und Müssen‘ (S. 56 u. passim) sowie über den Glauben an Gott (S. 130ff.) kritisch Stellung nimmt. Möglicherweise ist aber auch der Schriftsteller Jean Paul (Richter) gemeint: „Minnas Bemerkungen könnten sich auf die ‚Rede des toten Christus‘im ‚Siebenkäs’ beziehen“ [Austermühl 1989, S. 411 (Anm. 7)]. nicht beis
ganz beistimmst. Natürlich, das Wollen und MüssenIn „Frühlings Erwachen“ (1891) wird der vermummte Herr sagen: „Unter Moral verstehe ich das reele Produkt zweier imaginärer Größen. Die imaginären Größen sind Sollen und Wollen. Das Product heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen.“ [(III/7) KSA 2, S. 321; (Erläuterung), S. 828] läßt sich überhaupt sehr leicht umdrehen. Ich
gebe | auch zu, daß ich mich oft, nur zu oft vom Schein blenden lasse – irren
ist menschlich.
Was den 2ten
Satznicht ermittelt. von R.
anbelangt, habe ich ihn deßhalb gern, weil damit angedeutet ist, daß nur
derjenige welcher verzweifelt, also den Glauben an sich u Alles verliet verliert u dadurch zu
Grund geht, Atheist
ist. So lang man aber noch an sich glaubt, Achtung vor sich selbst hat, so lang
ist man auch nicht
AtheistZur Atheismus-Diskussion vgl. auch Wedekinds Korrespondenzen mit seinen Jugendfreunden Oskar Schibler und Adolph Vögtlin., selbst wenn man es behaupten wollte, denn alsdann fühlt sich der
Betreffende et entweder selbst als Gott, (vermessene Idee) oder Gott ist
in uns.
Nein weiter philosophire ich nicht, denn ich sehe schon
Dein sarkastisches Lächeln und schließlich verstehst Du mich eben doch nicht
denn – „Gefühl ist
Alles.Zitat („Gefühl ist alles“) aus Goethes „Faust“ (Marthens Garten) [Goethes Werke (WA), Bd. 14, S. 174 = V. 3456].“
Jetzt will ich Dir noch schwarz auf weiß sagen, welche
von Deinen GedichtenVon den im Folgenden genannten 18 Gedichten Wedekinds befinden sich die ersten und die letzten 6 auch in Wedekinds Heft „Memorabilia / 1882-83“ [Aa B, Nr. 22; vgl. KSA 1/I, S. 776f.], das neben anderen Texten und Notizen weitere 23 Gedichte enthält. In seinem Heft „Poesie“ befinden sich die mittleren 6 Gedichte (von „Ghasel“ bis „An die Weltschmerzler“). Die erwähnten Abschriften Minna von Greyerz’ sind sind nur als Abschriften Sophie Haemmerli-Martis überliefert. überliefert.
mir am Besten
gefielen: „die
Liebe stieg vom Himmel nieder“, „Ein Lebenslauf“, „Abschied“, „Aenderung“, 2 Verse von dem „Traum“, Reue, Ghasel u Fernsicht,
Letzteres aber nicht deßhalb weil Du Deine poetischen Ergüsse zu verbrennen gedenkst,
sondern die Poesie an u für sich; abgeschrieben ferner habe ich Idyll (reizend) Lehre, Meinem Freunde | An die Weltschmerzler, Verstanden, die Sonne
(gefällt mir auch recht gut), Nachtgedanken, Winter, Jubel,
die Maid.
Verzeih
meine Schrift, Styl, kurz das ganze Schreiben u sei mir nicht gar zu ungehalten
wegen meiner Aufdringlichkeit. In fliegender Eile, drücke ich Dir
vor aus tiefgefühltestem Dank stumm die Hand u grüße Dich u
Deine LiebenFrank Wedekinds Eltern (Friedrich Wilhelm und Emilie Wedekind) und die jüngeren Geschwister Willy, Erika (Mieze), Donald und Emilie (Mati). Der ältere Bruder Armin Wedekind studierte in Zürich Medizin. als Deine
Cousine
Minna.