Kennung: 4612

München, 20. November 1884 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Jahn, Bertha

Inhalt

II Es ist gewiß etwas Hohes Erhabenes um den Pagendienstder Dienst junger Adeliger am Fürstenhof: „Als das Ritterwesen sich [...] ausbildete, erhielten die Pagen den Rang von Lehrlingen, und zwar mußte jeder, um einst die Ritterwürde zu erlangen, die Pagenlaufbahn betreten. [...] Den Damen war es vorbehalten, die Pagen im Katechismus, in den hergebrachten Höflichkeitsformen und in der Verehrung Gottes und der Damen zu unterrichten.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 12. Leipzig 1888, S. 608] Hier wohl in Anspielung auf das erotische Verhältnis, das sich zwischen Wedekind und der 25 Jahre älteren Bertha Jahn vor seiner Abreise aus Lenzburg entwickelt hatte.. Ich wenigstenSchreibversehen, statt: wenigstens. kenne keine tiefere Religion unter den Menschen. Nur der Mariencultus der katholischen Kirche kommt ihm in gewisser Beziehung sehr nahe, und darum geh ich hier auch recht viel in die Kirche und bete zu meiner Himmelskönigin, sie möge mir meine Sünden vergeben, mich nicht verlassen und zu mir kommen, mich zu trösten in den Stunden der Trauer und Verlassenheit. – Weiß der Himmel, ich fühle mich sehr oft recht einsam hier in dem dichten Menschengewühle, und da es keine stillen Wälder giebt, keine hohen freien Berge, oder lauschige Gärten, so tret’ ich in die nächste Kirche ein, kniee nieder unter den andächtigen Säulen auf einer der hintersten Bänke und berge mein Gesicht in beide Hände. – |


III Der wilde Knabe von früher ist jetzt zahm geworden, ganz zahm. Seit er nicht mehr an der Hand seiner hohen Gebieterin an Kraters Abgrund Blumen pflücken t/d/arf, hat er überhaupt keine Freude mehr an den Blumen. Überhaupt wird geraume Zeit verfließen, bis ich die alte Geisteselastizität wieder gewonnen habe. Sei es, daß ich mich erst an solche Entbehrungen gewöhnen muß, oder daß mich die Masse der neuen Eindrücke auf mich selbst beschränkt. Ich machte hier an einigen Freunden WaltersWalther Oschwald, Frank Wedekinds Jugend- und Schulfreund aus Lenzburg, war der Neffe Bertha Jahns und studierte ebenfalls Jura in München. sehr interessante und angenehme Bekanntschaften. Aber mich halten sie alle für ein Schaf und einen großen Dummkopf, weil ich absolut nicht mitsprechen kann und immer stumm dasitze. Auch kann ich nicht sagen, daß ich mich schon jemals


[von Bertha Jahns Hand ergänzt:]

gut amüsirt hätte hier. Ich bin eben andere Gespächewohl Abschreibfehler, statt: Gespräche. gewohnt, – bin verwöhnt! –

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. 14,5 x 11,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Brief ist nur fragmentarisch überliefert, der obere Teil des Blattes wurde abgetrennt, so dass der vermutlich mit „I“ nummerierte Beginn des Briefes sowie die zweite Hälfte des Teils „II“ fehlen. Den begonnenen Satz am Ende des Briefes hat Bertha Jahn wahrscheinlich anhand eines weiteren Blattes vervollständigt (hier wiedergegeben). Den Text der Seite 2 hat sie am linken Rand mit einem Längsstrich markiert (von „III“ bis „gewonnen habe.“) und daneben (um 90 Grad gedreht) die Frage „Wie lange?“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 20.11.1884 ist als Ankerdatum gesetzt – ein spekulatives Schreibdatum aus dem Beginn von Wedekinds Münchner Studienzeit, wie der Briefkontext nahelegt.

  • Schreibort

    München
    20. November 1884 (Donnerstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 77
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Bertha Jahn, 20.11.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (11.04.2025).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

19.02.2025 15:44