5. Februar 1880.
Lieber Papa!
Es thut mir unendlich Leid, Dir solchen Kummer bereitet zu
haben. Ich bin weit davon entfernt mich entschuldigen zu wollen, da die ganze
Sache auf einem unverantwortlichen Leichtsinn von mir beruhte, aber Du wirst
mir gewiß einigermaßen verzeihen, wenn ich Dir den Hergang der ganzen
Geschichte erzähle. Einer meiner Kammeradenmöglicherweise der Klassenkamerad und Freund Ernst Heinrich Zschokke; denn ziemlich genau ein Jahr nach den hier geschilderten Ereignissen berichtete Wedekind, dass Ernst Zschokke, nachdem die Freunde ein Jahr nicht miteinander geredet hatten, ihm (Wedekind) – in einer nicht genannten Angelegenheit – verziehen habe und die beiden sich versöhnt hatten [vgl. Wedekind an Walter Laué, 11.2.1881 und 28.2.1881]. stand in
einem Verhältniß mit einem aarauer
Mädchennicht ermittelt.. Zufällig fiel
ihm das Concept eines Briefes an dasselbe in der Stunde aus der Tasche, ein Anderernicht ermittelt. nahm es auf und
las es uns in der Pause vor. Auf diesen Brief machte
ich nun eine Travestie„in der Poesie eine besondere komische (oder auch wohl satirische) Dichtungsart, in welcher ein ernst gemeintes poetisches Erzeugnis dadurch lächerlich gemacht wird, daß dessen Inhalt beibehalten, aber in eine zu demselben nicht passende äußere Form gekleidet (verkleidet, daher der Name) wird“ [Meyers Konversations-Lexikon. 3. Aufl. Bd. 15. Leipzig 1878, S. 150].,
und das ist das GedichtDas Briefgedicht mit der Anrede „An L.B.“ (siehe unten) und der Grußformel „ewiglich der Ihre / Vulgo Kater F.W.“ [KSA 1/I, S. 48-49] ist als Abschrift in Wedekinds Sammlung „Gedichte 1877-1881“ überliefert und wurde in stark gekürzter Fassung unter dem Titel „Pennal“ im Sammelband „Die Fürstin Russalka“ (1897) abgedruckt [vgl. KSA 1/I, S. 789f.; KSA 1/II, S. 1955]., welches ich an L. B. schickteAdressatin war möglicherweise Leonie Bircher, die im Schuljahr 1880/81 Schülerin des Töchterinstituts in Aarau war [vgl. Achter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1880/81, S. 6] und im Schuljahr 1879/80 die Bezirksschule in Aarau besucht haben dürfte (eine halbe Stunde Fußweg von ihrem Heimatort Küttigen entfernt); ihrer Heiratsurkunde zufolge ist sie 1864 in Alexandria in Ägypten geboren [vgl. Archives de l’Etat civil de Marseille 1700-1922. Série 31: Mariages femmes 1810-1915. Paris, France: ARFIDO S.A., 2010], was in Verbindung mit dem in zeitlicher Nähe zum Briefgedicht „An L.B.“ (siehe oben) entstandenen Gedicht „Freudvoll u. Leidvoll“ [KSA 1/I, S. 736-740], das von der Liebe zu einem aus Ägypten stammenden Mädchen Leonie handelt („Ein mächtig Sehnen zieht mich nach Ägypten / In jenem schönen Lande der Geliebten. [...] Leonie, ich schwör dir hoch u theuer“), sie als Adressatin des Briefgedichts „An L.B.“ wahrscheinlich macht. – Die Vermutung, hinter „L.B.“ verberge sich Luise Belart [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 26; KSA 1/I, S. 1957], ist nicht zu belegen.. Du wirst jetzt
begreifen, warum es so frivol, ja stellenweise sogar gemein ausgefallen ist. |
Ich machte es in der Turnstundefrühestens am Freitag, den 30.1.1880.
und schrieb es nachher geschwind auf. Es ist also keine Rede von „Nachts, drei Uhr, rauchenZitat aus einem nicht überlieferten Schreiben des Vaters; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 4.2.1880.“ e. ct. Diese Travestie las ich am folgenden Tage der Classedie I. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau, die Wedekind seit Mai 1879 besuchte. Die Gemeinschaft bestand aus 16 Schülern, von denen die eine Hälfte schon das Progymnasium der Kantonsschule Aarau besucht hatte. Einige Schüler waren ortsansässig, einige Tagespendler, einige – wie Wedekind – hatten ein Pensionszimmer und fuhren nur an den Wochenenden und kurzen Schultagen nach Hause. vor und sie gefiel.
Man sprach davon, man sollte sie einem Mädchen schicken, und einer bot sich gleich dazu an, er wolle schon seinen
eigenen Namen darunter setzen. Du begreifst, daß ich dies nicht zugab, aber ich
dachte: „Wenn der’s thun kann, so kann ich’s auch.“ und es handelte sich nur
noch darum, wem ich es schicken sollte. Ich wäre nie auf L. B.
gefallen, da ich sie gar nicht kannte, aber man machte mich auf sie aufmerksam
und ich schickte ihr den BriefWedekind an Leonie Bircher, 2.2.1880.
theils aus Übermuth, theils aus Neugierde, was sie darauf antworten werde. Letzteres
ist auch allein der
Grund, warum ich es nicht bei einem Briefe bewenden ließ. Es liegt also dem
Gedicht nicht, wie Du etwa denken magst, ein tieferes Motiv zu Grunde, denn
dann wahrlich hätte ich etwas Anderes schreiben können, als was in jenem Brief
steht. Es wäre auch jedenfalls besser heraus gekommen, wenn es mein Ernst
gewesen | wäre, denn ich hätte besonnener gehandelt. Ich wartete also auf eine
Antwort, aber sie kam nicht. Ich vernahm nur durch HuberHermann Huber, Klassenkamerad und Freund Wedekinds. das, was ich in dem zweiten Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Leonie Bircher, 3.2.1880.
entschuldigte. Auch diesen erkennt man an verschiedenen Stellen mehr als
den Erguß einer übermüthigen Laune, als tieferer Gefühle. Aber was ich durch
Huber so erfuhr, war blutwenig, und so ziemlich aus
Eitelkeit drang ich auch in dem zweiten Briefe auf eine schriftliche Antwort auf das „Gedicht“.
Da auch diese ausblieb, hoffte ich meinen Zweck dadurch zu erreichen,
daß ich mich dem Mädchen interessant machte und darum schrieb ich den dritten Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Leonie Bircher, 4.2.1880.. Es war
unbesonnen und frech von mir, mit einem so schrecklichen Zustand auf diese
Weise zu scherzen. Ich kann nicht sagen, daß mir dies/s/ beim Schreiben
nicht einfiel, denn gerade dadurch glaubte ich ihr am meißtenSchreibversehen, statt: meisten. zu imponiren.
Wie Du schon weißt hat mich Huber schändlich betrogen. Was er in die Briefe
schrieb, weiß ich nicht und will es auch nicht wissen, aber ich gab ihm eine
tüchtige Ohrfeige und werde kein Wort mehr mit ihm sprechen. |
Sowohl in Lenzburg,
wie auch hierin Aarau. habe ich
jetzt Unannehmlichkeiten durch solche Dummheiten gehabt und ich werde es mir
für immer zur Lehre dienen lassen. Ich bitte Dich noch, die drei Briefe sobald
als möglich zu vernichten.
Du magst vielleicht denken, ich schreibe Dir nur, um Dich zu versöhnen,
bevor ich heim kommeFrank Wedekind wohnte in der Schulzeit in der Familie des ehemaligen Kantonsschullehrers Professor Friedrich Rauchensteins in Aarau (Halden Nr. 261) [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau, S. 17f.]. Samstags nach der Schule und an kurzen Schultagen fuhr er heim nach Lenzburg.,
aber, weiß Gott, das ist nicht der Fall. Ich halte es für meine Pflicht, da ich
Dich am Mittwochenden 4.2.1880.
nicht sah (wir hatten von 4-5Nach dem Unterrichtsende um 17 Uhr hätte Wedekind 2 Stunden in Aarau warten müssen, ehe ihn ein Zug nach Lenzburg gebracht hätte. Mit Umstieg in Suhr betrug die Fahrtzeit gut 35 Minuten, so dass er wohl nach 20 Uhr zu Hause auf Schloss Lenzburg gewesen wäre, wo er noch hätte die Hausaufgaben erledigen müssen. – Die Strecke zwischen Lenzburg und Aarau konnte entweder mit der schweizerischen Centralbahn (SCB) – Strecke Aarau-Muri-Bremgarten – oder mit der schweizerischen Nationalbahn (SNB) – Strecke Zofingen-Konstanz: Abschnitt Aarau-Suhr, Suhr-Hunzenschwyl-Lenzburg zurückgelegt werden. Laut Winterfahrplan 1879/80 kam zu Schulbeginn nur der Zug der SCB, der um 7.39 Uhr am Bahnhof Aarau eintraf, in Frage. Für den Rückweg standen Abfahrtszeiten ab Aarau um 12.00 Uhr, 12.38 Uhr, 16.23 Uhr, 16.53 Uhr, 19.08 Uhr zur Verfügung [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 26, Nr. 7, 9.1.1880, S. (3)].
TurnenDem Schulprogramm zufolge hatten die Schüler der I. Klasse zwei Wochenstunden Turnen bei Turnlehrer Heinrich Wäffler; unterrichtet wurde nach der „Eidg. Turnschule 2. Stufe. Frei- und Stabübungen nach Maul. Im Sommer Riegenturnen, im Winter Gemeinübungen an den Geräten. Turnspiele.“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule. Schuljahr 1879/80, S. 25]) mich wenigstens
schriftlich zu entschuldigen verantworten. SonnabendSamstag, den 7.2.1880., um vier Uhr werde ich kommen und
verbleibe Dein Dich liebender Sohn
Franklin.