Lieber Georg!
Ich kann nicht sagen daß Du mir mit Deinem Aufsatz im TagGeorg Hirschfelds Aufsatz über den Neuen Verein in München in der Berliner Zeitung „Der Tag“ [vgl. Georg Hirschfeld: Münchener Freie Bühne. In: Der Tag, Nr. 282, 2.12.1910, Ausgabe A, S. (1-2, 7)], der Wedekind besonders würdigt (siehe unten).
eine große Freude gemacht hast. Das ist zu wenig. Es sind ganz andere Gefühle,
die mich dem Aufsatz gegenüber bewegen. Vor allem ein Gefühl tiefer Beschämung.
Von einigen Deiner Sätze freut es mich daß Du sie aussprichst, daß Du
diese Überzeugung hast. Aber in der Zeitung
brauchte das nicht zu stehen. Und doch bedeutet Deine BesprechungGeorg Hirschfeld besprach Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ (1903) und ihre geschlossene Aufführung (mit einem Rückblick auf eine frühere geschlossene Vorstellung des Stücks in München) durch den Neuen Verein am 8.11.1910 am Münchner Künstlertheater (siehe unten); in der Besprechung heißt es: „Frank Wedekind ist in den letzten Jahren als Dichter und Darsteller den Münchenern sehr vertraut geworden. [...] Aber die ‚Büchse der Pandora‘ blieb ein absolut verbotenes Stück. Die hielt der Zensor mit beiden Händen umklammert [...]. Die ‚Büchse der Pandora‘ ist kein Stück, das einfach gespielt werden kann wie andere Stücke. [...] Wenn diese Tragödie auf der Bühne erscheint, kommt sie wie eine furchtbare und in ihrer Furchtbarkeit schöne Bestie, die sonst in finsterem Zwinger hausen muß. Die Zensur des Alltags muß sie einsperren. [...] Aber dieses einzigartige, außerhalb aller Gesetze stehende, psychopathische Meisterwerk ist wohl das Stärkste, was Wedekind dem Theater gegeben hat. [...] Wenn dieses Werk nicht die Zwitternatur seines Schöpfers hätte, dieses zeitlosen Genies, das vom modernen Theaterflitter umwirrt ist, dessen beste Jahre durch trübe Verkanntheit nicht zum Gipfel gelangen konnten. Ein grandioses Feuerwerk, ein Vorüberhuschen herrlichster Gedankenneuheit, kühnster Erkenntnis unserer moralischen Wirren – so ist auch dieses Werk. Nicht das Ganze bleibt mit ewiger Wucht in einem haften, sondern Einzelheiten, funkelnd und stark wie nur weniges.“ [Georg Hirschfeld: Münchener Freie Bühne. In: Der Tag, Nr. 282, 2.12.1910, S. (1-2)] sicherlich
einen sehr, sehr großen Vortheil für mich. Aber wir haben | einander doch
wertvolleres zu bieten. Ob das Stück nicht auch in Deinen Augen als mehr
erscheint als es ist!/,/ vielleicht zum Nachtheil anderer meiner
Arbeiten. Das Oppositionelle läßt es als AußergewöhnlichSchreibversehen, statt: außergewöhnlich. erscheinen, weil die
Polemik, die darinsteckt nicht mehr in die Augen springt. Wenn Ihr öfter in die
Stadtnach München, vom nahe gelegenen Dachau aus, wo Georg Hirschfeld nach wie vor wohnte [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1911, Teil II, Sp. 700]. kämet, dann könnte man sich darüber aussprechen. In der TorggelstubeWedekind war in den letzten Tagen mehrfach in geselliger Runde im Münchner Weinlokal Zur Torggelstube (Platzl 8) gewesen, so am 26.12.1910, 28.12.1910 und 29.12.1010 [vgl. Tb]; vom 23. bis 26.2.1911 traf er dort Georg Hirschfeld [vgl. Tb].
haben wir in letzter Zeit wieder einige vergnügte Abende verlebt. Daß Du BasilFritz Basil, Schauspieler und Regisseur am Münchner Hoftheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1911, S. 568f.], war in jüngster Zeit maßgeblich an zwei Wedekind-Inszenierungen in München beteiligt. Er hat am 17.11.1910 am Münchner Residenztheater bei der Premiere von Wedekinds Schwank „Der Liebestrank“ (1899), „das erste Stück Wedekinds überhaupt, das die Münchner Hofbühne gab“ [KSA 2, S. 1075], und in den weiteren Vorstellungen die Rolle des Fürsten Rogoschin gespielt [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 63, Nr. 538, 17.11.1910, General-Anzeiger, S. 2]; zuvor hatte er bei der geschlossenen Vorstellung von Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ durch den Neuen Verein am 8.11.1910 im Münchner Künstlertheater die Rolle des Rodrigo Quast gespielt, wie die Presse angekündigt hatte: „In Wedekinds Büchse der Pandora, die am 8. November im Künstlertheater auf Veranlassung des Neuen Vereins gegeben wird, spielt Fräulein Luise Hohorst, eine Schülerin von Fritz Basil, die Max Reinhardt für das Berliner Deutsche Theater verpflichtet hat, die Rolle der Gräfin Geschwitz. Herr Basil spielt den Athleten Roderigo Quast.“ [Vom Neuen Verein. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 63, Nr. 515, 4.11.1910, Vorabendblatt, S. 3]
nicht erwähnstGeorg Hirschfeld hat Fritz Basil in der Rolle des Rodrigo Quast (siehe oben) nicht erwähnt, als er die Aufführung von Wedekinds Tragödie durch den Neuen Verein am 8.11.1910 am Münchner Künstlertheater besprach und dabei andere Schauspieler und Schauspielerinnen namentlich nannte: „Die Aufführung der ‚Büchse der Pandora‘ im Neuen Verein bot Vorzügliches durch Steinrücks Schigolch, auch Bernhard v. Jacobis Alwa Schön hatte echten Wedekind-Stil. Dem schwierigen Gelingen nahe kam eine talentvolle, neue Kraft, Fräulein Hohorst als Gräfin Geschwitz. Fräulein Terwin vom Hoftheater erwies mit ihrer Lulu wieder die gewandte, hübsche und energische Darstellerin, aber die Größe der Lulugestalt [...] kam durch sie nicht zur Geltung. Überraschend und in der Erinnerung haftend war der Marquis Casti-Piani des Herrn Graumann.“ [Georg Hirschfeld: Münchener Freie Bühne. In: Der Tag, Nr. 282, 2.12.1910, S. (2, 7)], verstehe ich von Dir. Ich fand ihn gut und wüßte seit
Schildkrauts Weggang bei ReinhardtRudolph Schildkraut, noch vor wenigen Monaten Schauspieler am Deutschen Theater (Direktion: Max Reinhardt) zu Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1910, S. 285], einer von Max Reinhardts wichtigsten Ensemble-Mitgliedern und als Interpret in Shakespeare-Rollen berühmt, war nach einem Gastspiel in München am 1.10.1910 an das Berliner Apollo-Theater gegangen, ein Varietétheater; die Presse hatte bereits im Sommer berichtet: „Das bekannte Mitglied des Deutschen Theaters Rudolf Schildkraut, von dem schon lange die Sage ging, daß ihn eine unüberwindliche Sehnsucht zu der goldstreuenden Göttin des Variétés ziehe, will sich nun wirklich diesem ‚Kunst‘genre zuwenden. Der Künstler, der gegenwärtig noch im Ensemble des Deutschen Theaters in München spielt, wird am 1. Oktober auf der Bühne des Apollotheaters in einem Stück mit dem Titel ‚Der Schatten‘ auftreten [...]. Es ist [...] für Schildkraut geschrieben worden. Dieses erste Auftreten Schildkrauts auf dem Variété hat in der Hauptsache den Zweck, den von verschiedenen großen Variétébühnen des Auslandes, besonders Amerikas und Australiens, vor Abschluß von Engagements geforderten Befähigungsnachweis für das neue Fach zu erbringen.“ [Rudolf Schildkraut im Variété. In: Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 425, 23.8.1910, Morgen-Ausgabe, S. (3)] Rudolph Schildkraut hat 1908 bei einem „Erdgeist“-Gastspiel in München die Rolle des Malers Schwarz gespielt [vgl. Seehaus 1973, S. 191]. niemand, der den Ton getroffen hätte.
Dir und Deiner verehrten Frau senden Tilly und dich
die herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahr und für alle künftigen.
Mit herzlichem Gruß
Dein ergebener
Frank.
München 30.12.10.
[Kuvert:]
Herrn Georg Hirschfeld
Dar/c/hau
bei München