Kennung: 5339

Lenzburg, 31. Januar 1885 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Emilie

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Mein lieber Franklin!

Gestern Abend war Schülerfest in AarauDas Fest der Kantonsschüler fand am 30.1.1885 statt [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 58]. Es war die zweite Veranstaltung dieser Art, im Jahr zuvor hatten die Schüler erstmals „eine öffentliche musikalisch-dramatische Abendunterhaltung im neuen städtischen Festsaale gegeben. Das Programm, aus einem Prolog, mehreren Vocal- und Orchesternummern, Declamationen und dramatischen Darstellungen bestehend, hatte eine unerwartet große Zahl Zuhörer angezogen“, so dass, „da nun ein sehr schönes und günstiges Lokal zur Verfügung“ stand, geplant war, „den Schülern jeden Winter einen oder zwei solcher Abende bieten zu können.“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1884, S. 9] und ich war auch da, als Ballmutter unserer Miez. Es war sehr fidel. Victor JahnDer Sohn von Bertha Jahn besuchte die Abschlussklasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau. Im Jahr zuvor hatte Wedekind den Prolog verfasst und vorgetragen [vgl. KSA 1/I, S. 114-117 und KSA 1/II, S. 1983f. vgl. auch: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 16.2.1884]. Mit Bertha Jahn korrespondierte er zu dem Text seines Nachfolgers [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 18.12.1884 und 12.4.1885; zu Victor Jahns Prolog vgl. Hans Kaeslin: Schülerabend-Prologe. In: Aargauer Neujahrsblätter, Jg. 18, 1944, S. 32-34]. war dieses Jahr der Pl/r/ologverfasser und, mit einer Art Narrenkappe geschmückt, trug er ihn vor, mit vielem Humor und guter Laune. Leider konnte ich vieles nicht verstehen, war es der Platz oder ist der Saal überhaupt nicht zum Sprechen geeignet, ich verstand auch von den folgenden gesprochenen Produktionen sehr wenig. Überraschend gute Instrumentalvorträge fanden statt. Geige spielte ein ganz junger Mensch, WidlerHeinrich Wydler aus Affoltern, der im Jahr zuvor noch die 2. Klasse des Progymnasiums besucht hatte [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1884, S. 15].; ich meine, man sagte mir, er sei erst G Progymnasiast. Der junge FlainerFritz Fleiner aus Aarau (Laurenzvorstadt 586) besuchte die 2. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule und legte im April 1887 dort das Abitur ab [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 59]. spielte sehr gutDie Aufforderung zum TanzKlavierrondo von Carl Maria von Weber (op. 65) aus dem Jahr 1819, das verschiedentlich auch orchestriert wurde. Das Stück folgt einem musikalischen Programm, bei dem ein Mann ein Mädchen zum Tanz überredet, mit ihr tanzt und beide wieder auseinandergehen.“. Der Gesang, König v. Tule„Der König in Thule“ ist ein Lied von Franz Schubert von 1816 (op. 5 Nr. 5, D 367) nach einer Ballade von Johann Wolfgang Goethe aus dem Jahr 1774, die er auch in den ersten Teil seines „Faust“ übernommen hat., Alpenjägerein weiteres Schubert-Lied (op. 13 Nr. 3, D 524), geschrieben 1817, auf einen Text von Johann Mayrhofer. , | war nicht weit her, aber als Lückenbüßer am Platze. Das Kleist’sche Fragment Guiskart/d/„Robert Guiskard. Herzog der Normänner“ ist ein dramatisches Fragment von Heinrich von Kleist, das 1808 erschien und offiziell erst am 6.4.1901 in Berlin uraufgeführt wurde. schien mir ein Mißgriff. Die Erstens verstand man beinahe nichts. Zweitens hatten 2 der Hauptrollenträger falsche Bärte, die die Aussprache noch mehr undeutlicher machten und der Chor, Kreuzritter, hatten alle bis auf die Achsel gehende blanke silberne Helme auf, die große Änlichkeit mit unserm Dampfhafen„ein starker eiserner Topf mit luftdicht schließendem Deckel, aus welchem der beim Sieden gebildete Wasserdampf nicht entweichen kann“ [Carl Ernst Bock: Das Buch vom gesunden und kranken Menschen. Leipzig 1876, S. 425]; Dampfkochtopf. hatten, und/nur/, daß ihre ForderseiteSchreibversehen, statt: Vorderseite. mit 2 Augenlöchern und einem winzigen Mundlöchlein versehen war. So kam es denn, daß es stets sehr lächerlich klang, wenn solch’ ein wandelnder Kochtopf anfing zu sprechen. Es war dieß die Glanzproduktion der Aargauer, die aber weit überstralt wurde von/m/ „Lohengrin“, Oper in 3 Akten, ge von dem Turnverein gegeben. | Es war dieß eine ganz tüchtige Leistung. Dein Freünd, H. KellerHermann Keller aus Aarau, der Stiefbruder von Wedekinds Freund Oskar Schibler [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.7.1884], besuchte die Abschlussklasse der Gewerbeschule an der aargauischen Kantonsschule. [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Aarau 1884, S. 16]., machte den König so gut, daß er sich getrost auf einem ordentlichen Theater presentiren könnte. Die Elsa war enzückendSchreibversehen, statt: entzückend. und der Lohengrin ein echter Märchenprinz. Nun, di/u/ kennst ja die Personen, sahst auch das StückRichard Wagners Oper „Lohengrin“ war am Königlichen Hof- und National-Theater München am 22.1.1885 gegeben worden., und deßhalb enthalte ich mich weiterer Deet/ta/ils. Der Saal war fast ganz vollDer Festsaal des am 16.12.1883 eröffneten Saalbaus in Aarau fasste 650 Sitzplätze und 150 Plätze auf dem Podium, der kleine Saal 400 Sitzplätze [vgl. Oskar Bucher: 100 Jahre städtischer Saalbau Aarau. In: Aarauer Neujahrsblätter, Jg. 58, 1984, S. 24].. Die InstitutsbeesenSchreibversehen, statt: Institutsbesen. Gemeint sind wohl die Schülerinnen des Töchterinstituts und Lehrerinnenseminars in Aarau, das Erika Wedekind besuchte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 59]. Die Bezeichnung „besen heiszt […] studentisch, jedes mädchen: ein flotter, famoser, patenter besen“ [DWB, Bd. 1, Sp. 1615]. hatten Freibillete und durften auch nachher dableiben. Zwar, die fromme oberste Klasse getraute sich dennoch nicht zum Tanze zu bleiben und ging G/g/ottergeben nach den Auffür/h/rungen heim. Ich hatte mich bei Mieze’s Philisterinnendie Erzieherinnen bzw. Hauswirtinnen [vgl. DWB Bd. 13, Sp. 1827] von Erika Wedekind am Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. zum Quartier gebeten, lud aber dafür eine der Damen ein und hatte auch die Ehre der Bewirthung für den Abend. Mieze tanzteDavon berichtete auch Erika Wedekind ihren Brüdern [vgl. Erika Wedekind an Armin und Frank Wedekind, 8.3.1885]. unausgesetzt und war sehr vergnügt. Herr Großmöglicherweise Ludwig Karl Groß, „Buchhändlergehülfe aus Ludwigsburg (Würtemberg), Zollrain 87“ [Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 24]. In einer chronologischen Liste im Anhang seines Münchner Tagebuchs notierte Wedekind lediglich den Namen „Groß“ unter dem Jahr 1882 [Tb München, S. 114]. nahm sich ihrer auch an und im Übrigen ließen unsere Lenzburger | jünglinge nichts zu wünschen übrig. Ich hatte auch volle Gelegenheit alle Deine mehr oder weniger Flammendie von Wedekind Angebeteten aus seiner Aarauer Schulzeit (1879 bis 1884). von Angesicht zu schauen. Da war das „FahrländerliAnna Fahrländer aus Laufenburg, wohnhaft in Aarau, ehemalige Schülerin am Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau [vgl. Zehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1882/83, S. 4]. In Aarau gemeldet waren der Staatsanwalt Karl Fahrländer, der Arzt Adolf Fahrländer und der Ingenieur Eugen Fahrländer [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau. Aarau 1881 S. 55].“, das „FleinerliMartha Fleiner aus Aarau, Schwester des oben genannten Fritz Fleiner, das vierte der fünf Kinder des 1877 verstorbenen Aarauer Zementfabrikanten Albert Fleiner und der Leontine Zschokke-Fleiner, ehemalige Schülerin am Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau [vgl. Zehnter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1882/83, S. 4] – ein Schwarm Wedekinds aus dem Jahr 1881 [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 3.9.1881]. “, das Rynerlivermutlich Félonise Reiner aus Aarau, ehemalige Schülerin am Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau [vgl. Siebenter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1879/80, S. 5]. In Aarau war der Fabrikant Wilhelm Reiner gemeldet [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau. Aarau 1881 S. 63]. , das Schärerlivermutlich Emilie Scherer aus Baden, die im Schuljahr 1874/75 die I. Klasse des Lehrerinnenseminars Aarau besucht hatte [vgl. Zweiter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau Schuljahr 1874/75, Aarau 1875, S. 5]. Wedekind dürfte sie 1878 kennengelernt haben, da er zu diesem Jahr in einer Übersicht am Ende des Münchner Tagebuchs ihren Namen notierte [vgl. Tb München, S. 114]. und tanti quanti(lat.) so viele.. Übrigens iste der Schnurrbartmöglicherweise Anspielung auf einen Verehrer oder Verlobten Martha Fleiners; sie heiratete am 10.5.1887 den Aarauer Maler Hermann Hunziker. des Fleinerli’s gar nicht so prominent und steht dem Gesicht gar nicht übel. Um 3 Uhr gingen wir heim, zum argen Leidwesen Mieze’s die gerne die Freude bis auf die Hefe gekostetRedensart biblischen Ursprungs (Psalm 75,9): etwas bis zum Ende genießen. hätte. Heute früh kamen wir heim, als unsere Lenzburger gerade beim Kaffee saßen. Ich schicke Dir die Programme und eine KarteDie dem Brief beigelegten Schriften sind nicht überliefert. an Armin die die liebe gute Effienicht identifiziert. in der Neujahrsnacht für ihn gezogen oder geloost hatte. Effie schrieb mir einen reizenden Brief. Zwar voller frommer Bibelsprüche und Hinweisungen auf jenseitige Freuden, | Aber d ganz ohne unangenehme Zudringlichkeit, so daß man eben fühlt, es sei die Frömmigkeit ihr eigenstes Sein und Wesen. Sie hatte einen Heiratsantrag von einem jungen Arzte, dem sie aber einen Korb gab, weil er, wie sie sagt, kein Christ sei, und sie nur mit einem solchen glücklich werden könne. Sie meint, zum Frühjahr werden sie ihre Heimath auf der Audie Halbinsel Au mit der gleichnamigen Ortschaft im Zürichsee. abbrechen und dann gehe ihr Vater wieder nach Indien, wohin ihn sein Herz stets mehr hi ziehe. Wenn er es ihr erlaube, wolle sie sich ganz den frommen Werken weihen und zu dem Zwecke nach London zurück kehren wo soviel Sünde und Elend sei. Augenblicklich treibt sie Rosenzucht und hat im Sinn auf den Sommer, wenn sie noch da seien eine Ausstellung zu veranstalten.

Willy hat mir, auf eine Sendungnach Lausanne, wo William Wedekind eine kaufmännische Ausbildung bei Émile Ruffieux absolvierte. Berlinerpfannkuchen eine wahre Liebeserklärung gemacht. Ein solcher Enthusiasmus ist mir lange nicht vorgekommen. Dazu hält er mir aber eine Standrede, daß Ihr soviel Geld verstudiert und Euch dazu noch photographiren laßtvgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.12.1884; eine Reproduktion des Fotos findet sich in Vinçon 2021, Bd. 1, S. 69].. Er ist ein drolliger Kauz, seine BriefeVon William Wedekinds Briefen an seine Mutter sind nur fünf überliefert [vgl. Mü, FW B 313], darunter keiner aus dem Jahr 1885. werden einst, gesammelt Epoche machen. Nun aber möchte ich doch bald mal wieder etwas von Euch hörenFrank und Armin Wedekind verbrachten ein gemeinsames Studiensemester in München und wohnten zusammen in der Türkenstraße 30 im 1. Stock. [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78].. Deßhalb setze sich mal einer von Euch hin und sendet ein Lebenszeichen an Eure, darnach lechzende, treue Mutter.


Lebet wohl. Mieze, Donald und Mati lassen 1000 mal grüssen. Donald muß in 3 Wochen in einem kleinen Stücknicht näher identifiziert; vermutlich im Rahmen einer Schulaufführung. Donald Wedekind besuchte die Bezirksschule Lenzburg. einen deutschen Gelehrten spielen, was ihm aber sehr zuwieder!! –––

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt + Einzelblatt. Seitenmaß 13 x 20,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Brief zeichnet sich durch zahlreiche von den Regeln der Rechtschreibung abweichende Schreibungen und Verschreibungen aus, die im Kommentar nicht alle eigens erwähnt werden.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Schreibdatum ergibt sich aus dem genannten Schülerfest in Aarau, das tags zuvor, am 30.1.1885, stattfand [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 58].

  • Schreibort

    Lenzburg
    31. Januar 1885 (Samstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Geliebter Sohn. Elternbriefe an berühmte Deutsche

Herausgeber:
Paul Elbogen
Verlag:
Ernst Rowohlt Verlag
Jahrgang:
1931
Seitenangabe:
302-303
Kommentar:
Im Erstdruck unvollständig ediert, die Auslassungen sind einmal durch eine Bemerkung in eckigen Klammern sowie fünfmal durch drei Punkte markiert. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 70-72 (Nr. 27).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 307
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (01.07.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

18.06.2024 16:15