[1. Hinweis, Referat
und Zitat in Kutscher 1, S. 106f.:]
Frau Wedekind schildert im Dezember 85 die schöne eitle FrauBertha Jahn, Mutter von vier Kindern, seit Herbst 1882 verwitwet, war Inhaberin der Lenzburger Löwenapotheke. Sie wurde zur vertrauten Kritikerin von Wedekinds literarischen Projekten, zu der er seit Herbst 1884 auch eine erotische Beziehung pflegte; Wedekinds ‚erotische Tante‘. Ihr Name ist im Briefzitat vermutlich durch Kutscher mit einen „X“ verschleiert.,
welche noch als Ballmutter reizvoll genug war, um junge Damen eifersüchtig
machen zu können, als ein Wesen von tiefem Gemüt und hohem Glauben an alles Gute,
Große und Schöne, deren Zuneigung sich der Sohn ganz würdig erweisen solle. Aber,
meint sie „Es fehlt ihr jene heilige Weihe, die dem Menschen durch erlebtes Unglück
aufgedrückt wird. Sie war stets, sowohl von ihrem Vater, als auch von ihrem Manne
verhätschelt worden, und sie kennt jene grenzenlose Erbitterung nicht, die durch
die Ungerechtigkeit von Menschen hervorgerufen wird, die, je mehr wir sie
lieben, desto schmerzlicher verletzen und verwunden. – Daher kommt es auch, daß
sich X noch so viele Illusionen bewahrt hat, daher auch ihre in meinen Augen manchmal
grenzenlose Unbedachtsamkeit. Sie kennt das Gebranntsein nicht, fürchtet daher
auch kein Feuer und glaubt, daß es denjenigen, die auf dem Marterroste liegen,
nicht mehr weh tue. Das ist, objektiv betrachtet, ganz schön und gut, und man
kann sich freuen, in unseren Zeiten der extremen Empfindung noch jemand zu
finden, der vom Leben so sanft angefaßt worden ist. Ich erfreue mich auch an
dieser Erscheinung wie an einer duftvollen, exotischen Blume, besonders da sich
bei unserer lieben Freundin zu ihren Eigenschaften noch diejenige
ungewöhnlicher Menschenliebe und Duldsamkeit gesellt. Allein, um mich ganz befriedigt
zu fühlen, und um sie zu meiner Freundin zu machen, fehlt mir an ihr die
tragische, tiefe Färbung, jenes Verständnis für Handlungen, welche durch die Macht
der Verzweiflung hervorgerufen werden, und die über alles Konventionelle hinweg
sich vor allem andern ihr Recht zu erringen trachten. Frau X opfert gewiß
manches ihrem Schönheitsgefühl und läßt in Haus und Umgebung oftmals fünf
gerade sein, um nicht die vornehme schöne Gemütsruhe zu stören. Sie ist kein Feuergeist,
sondern ein anmutiges, lächelndes Idyll.“
[
2. Hinweis und Zitat in
Kutscher 1, S. 124:]
Und im Dezember 85: „Es ist merkwürdig, daß ich sonst gar
keinen Beweggrund habe, Dir zu schreiben, als eben das Pflichtgefühl, Deinen
Brief vom 27. NovemberWedekind hatte an diesem Datum seinem Vater geschrieben [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.11.1885] und in dem Brief seiner Mutter Grüße bestellt. beantworten zu sollen. Kommt wohl der Mangel an
Mitteilungsdrang daher, daß ich die ganze Zeit Deiner AbwesenheitNachdem Wedekind die zweite Hälfte der Semesterferien in Lenzburg verbracht hatte, war er am 2.11.1885 zum Studium nach München abgereist [vgl. Frank Wedekind an William Wedekind, 28.10.1885]. nur mit
unerquicklichen Haushaltungsangelegenheiten und etwa Gartenarbeit beschäftigt
war, mit welchen zu unterhalten ich Dich verschonen will, oder ist es wieder
jene geistige Apathie, die mich früher schon so sehr in Banden gefangen
gehalten hatte? Ich kann darauf nicht selber antworten. Ich tröste mich jedoch
mit dem Gedanken, daß auch Du, mein geistreicher Sohn, einen ganzen Monat
sammeln mußtest, bis Du Material genug zum Ausfüllen eines Briefes hattest.
Vergleicht man nun Lenzburgs Produktivität an brieffähigen Artikeln mit München,
so rechne ich, kommt ein Verhältnis heraus wie 1:10, sodaß ich ganz getrost
noch neun Monate hätte warten können. Da ich aber als Mutter die Pflicht habe,
meinen Kindern mit guten Beispielen zu imponieren, will ich nun eben probieren,
mit wenig Mitteln Großes zu vollbringen.“