Kennung: 5350

München, 21. Dezember 1885 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm
  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Montag 21. December 1885.


Liebe Eltern,

empfanget meine herzlichsten Wünsche zu den bevorstehenden Feiertagen und dazu eine Kleinigkeit auf den Weihnachtstisch. Die beiden Klavierauszügevermutlich zu Opern von Mozart, aus denen Emilie Wedekind selbst früher Arien gesungen hatte; um welche es sich dabei handelte, ist nicht ermittelt. hab’ ich in einem musikalischen Antiquariat ausgewählt und ich hoffe, sie werden Dir, liebe Mama, eine schöne Erinnerung sein. Ein Pendant zu MozhartSchreibversehen, statt: Mozart. in der Musik ist wol Rafael in der Malerei und die Madonna della Sediahäufig reproduziertes Rundgemälde (1513/14) des italienischen Renaissancemalers Raffael da Urbino; es zeigt die sitzende Maria mit dem Christuskind auf dem Schoß, neben ihr Johannes als Knabe mit Kreuzstab., mit einigen Oblatenfarbige Glanzbilder zur Dekoration. auf einen weißen Carton geheftet, wird vielleicht, lieber Papa, einen bescheidenen Platz unter in Deiner | GallerieSchreibversehen, statt: Galerie. finden. – Für Deinen lieben Briefvgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind 1.12.1885; überliefert ist nur ein Briefzitat., l. Mama, bin ich Dir noch herzlichsten Dank schuldig. Verzeih mir, daß ich Dich so lange auf eine Antwort warten ließ. Aber ich kann doch nicht immer nur über allfällige(schweiz.) eventuelle, etwaige. Kunstgenüsse schreiben und im Übrigen sind mir die letzten zwei Monate ziemlich eintönig verlaufen. Meine alten Bekannten traf ich alle wieder recht wohl und gesund an und hab’ außerdem noch einige neue Bekanntschaften gemacht. Herr Dr. WeltiHeinrich Welti, ein Freund Armin Wedekinds aus der Aarauer Schulzeit, arbeitete als Theater-, Musik- und Literaturkritiker für die „Münchner Neuesten Nachrichten“ und hatte 1882 mit einem Kapitel aus seiner Arbeit zur „Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung“ promoviert, die 1884 vollständig erschien. Er trat in der Folgezeit mit Ausgaben zu Ludwig Tieck und Jean Racine (1886) als Herausgeber und einer Biographie zu Christoph Willibald Gluck (1887) als Buchautor in Erscheinung. hat seine Theaterkritik an den Nagel gehängt und arbeitet nun mit allem Fleiße daran, sich einen Namen zu machen und eine sicheres Einkommen zu finden um dann seine geliebte Emiliedie Schweizer Opernsängerin Emilie Herzog, die seit 1880 an der Münchner Hofoper engagiert war. Heinrich Welti heiratete sie 1890. heimführen zu können. Ich selber habe ihm sehr vieles zu danken. Half er mir | doch mit liebevoller Geduld mich in dem großen Chaos von Eindrücken jeder Art hier in München mich zurechtzufinden, so daß ich jetzt auf jedem Gebiete der Kunst auf dem besten Wege zu einem gesunden Urtheil bin. –– Seitdem ich nicht mehr so viel ins Theater gehe ist mir meine Bude umso wöhnlicher geworden. Ich habe sie durch einige Photographien nach alten Meistern um vieles veredelt und fühle mich in ihren vier Wänden in Gesellschaft meiner Bücher nicht minder in einem geheiligten Tempel, als wenn ich im Parterre des Hoftheaters oder an eine Korinthische Säule gelehnt im ConcertsaalDer Konzertsaal im Odeon war links und rechts von doppelreihigen Kolonaden umgeben, im Parkett mit toskanischen, im Galeriegeschoß mit ionischen Säulen. stehe. Der Musik bin ich in letzter Zeit etwas mehr nachgelaufen, als letztes Jahr. So hört’ ich einige reizende Quartt/e/tteDen genannten Komponisten zufolge besuchte Wedekind von den drei Soiréen des Walter-Quartetts die erste am 3.11.1885 und die dritte am 15.12.1885 (s. u.). Am 3.11.1885 wurden von Joseph Haydn das D-Dur Quartett op. 20 Nr. 4, von Robert Schumann das a-Moll Quartett op. 41 Nr. 1 und von Ludwig van Beethoven das C-Dur Quartett, op. 59 Nr. 3 gespielt [vgl. Allgemeine Zeitung, Nr. 308, 6.11.1885, 2. Beilage, S. 2]. Ob Wedekind auch die zweite Soirée am 30.11.1885 besuchte, ist ungewiss; auf dem Programm standen dabei Ludwig van Beethovens Serenade D-Dur op. 8, Anton Dvořáks Quartett Es-Dur op. 51 und Franz Schuberts d-Moll-Quartett aus dem Nachlass [vgl. Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 38, Nr. 335, 1.12.1885, 1. Blatt, S. 3]. , ganz mit Virtuosen besetzt. Sie spielten Haydn, Bethohven, SchumanSchreibversehen, statt: Beethoven, Schumann. e. ct. Zu/In/ der | letzten derartigen Soiréeam 15.12.1885. Die Presse kündigte an: „Die HH. Benno Walter, Ziegler, Thoms und Wihan geben in Verbindung mit den HH. Karl Hieber, Ebner, Closner und Perles am Dienstag den 15. d. M. im großen Saale des Museums ihre dritte und letzte Quartett-Soirée mit folgendem Programm: Joseph Haydn, op. 64 Nr. 1, Quartett in D-dur; L. van Beethoven, op. 95, Quartett in F-moll; Ludwig Spohr, op. 65, Doppelquartett für zwei Violinen, zwei Bratschen und zwei Violoncells.“ [Allgemeine Zeitung, Nr. 345, 13.12.1885, 2. Beilage, S. 3] wurde ein Doppelquartett von Spohr aufgeführt. Ich war mit einem alten weißlockigen Professor vom Conservatoriumnicht identifiziert. dort, der eine reinzendeSchreibversehen, statt: reizende. blonde Tochternicht identifiziert. hat. Besonders das Andantegemeint ist der 3. Satz des Doppelquartetts, ein Larghetto. war so elegisch, so mährchenhaft, wie ich noch kein Musikstück gehört habe; es erinnerte mich an eine StelleWedekind verschmilzt hier verschiedene Schilderungen von Kindheitserinnerungen bei Heine. In den „Florentinischen Nächten“ heißt es: „Bilder aus der Kindheit zogen mir dämmernd durch den Sinn, ich dachte an das Schloß meiner Mutter, an den wüsten Garten dort, an die schöne Marmorstatue, die im grünen Grase lag…“ [Heinrich Heine: Sämmtliche Werke. Bd. 4: Novellistische Fragmente. Hamburg 1876, S. 189] Eine zweite Passage findet sich in „Die Stadt Lucca“: „Ich erinnere mich noch ganz genau jener kleinen Zeit, wo ich mich eines frühen Morgens von Hause wegstahl und nach dem Hofgarten eilte […] Ich aber setzte mich auf eine alte mosige Steinbank in der sogenannten Seufzerallee unfern des Wasserfalls […] Es war ein trüber Tag, häßliche Nebelwolken zogen dem grauen Himmel entlang, die gelben Blätter fielen schmerzlich von den Bäumen, schwere Thränentropfen hingen an den letzten Blumen, die gar traurig welk die sterbenden Köpfchen senkten, die Nachtigallen waren längst verschollen, von allen Seiten starrte mich an das Bild der Vergänglichkeit“ [Heinrich Heine: Reisebilder. 2.Teil. Hamburg 1876, S. 406-409] Und in „Die Götter im Exil“ findet sich eine analoge Passage: „Andre Säulen, darunter manche von rosigem Marmor, lägen gebrochen auf dem Boden, und das Gras wuchere über die kostbaren Knäufe […] vielfach zerstört von der Witterung oder überwachsen von Moos und Epheu.“ [Heinrich Heine: Sämmtliche Werke. Bd. 4. Deutschland II. Hamburg 1876, S. 187] aus Heines Reisebildern, wo der Verfasser in einem etwas verkommenen Park aus der Rococozeit spazieren geht; es ist trübes Wetter und im hohen feuchten Gras liegen, halb überwachsen, umgeworfene Marmorstatuen, denen Moos in den Augen grünt. Nach beendeter Soiree ließ mich Frl. Herzog fragen, warum ich sie denn fortwährend angesehn hätte. Sie hatte sich geirrt; meine Aufmerksamkeit galt der/m/ schönen Töchter|lein des Musikproffessors, der/ie/ in der nämlichen Richtung aber bedeutend weiter zurück im Saal Platz genommen hatte. Am Abend des Weihnachtstages höre ich eine Symphonie von BethovenDie Presse kündigte für den 25.12.1885 an: „(Die Musikalische Akademie) bringt in ihrem, am ersten Weihnachtstag – Freitag – im kgl. Odeon Abends 7 Uhr stattfindenden letzten Abonnements-Konzert folgendes Programm: Sinfonie Nr. 4 B-dur, op. 60 von Beethoven; [Nils Gades] Frühlingsfantasie op. 23 für vier Solostimmen, Pianoforte und Orchester, vorgetragen von Frl. Herzog und Blank, den Herrn Mikorey und Fuchs […]; Wald-Horn-Konzert Nr. 4, Es-dur von Mozart […] und der Huldigungsmarsch von Rich. Wagner.“ [Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 38, Nr. 357, 23.12.1885, 1. Blatt, S. 10], gewiß nicht die ungeeignetste Art, dieses Fest andächtig zu begehen.

Um den Glanz eines Weihnachtsbaumes zu genießen, werd ich mich auch dieses Jahr wieder im Geist in vergangene Zeiten der Kindheit oder in eine Gegenwart, wie sie zu Hause sich gestaltet, versetzen müssen. Mög euch a/A/llen auch der diesjährige Heilige Abend wieder recht viele goldene Freude bringen! Laßt euch im Geiste umarmen, Mieze, Doda und Du, liebes Mati; denket daran, das ihr nicht ewig jung und sorglos bleibet und danket unserm lieben, guten Papa aufs herzlichste dafür, daß | da er uns so herrliche Augenblicke, so sch glückliche Tage und so herrliche schöne Erinnerungen für’s ganze Leben bereitet. – Und nun lebt wohl, Alle zusammen; im Geiste bin ich bei euch und wünsche euch Gesundheit und frohen Sinn für die kommenden Tage und Glück und Zufriedenheit für alle Zeiten. Mit tausend Grüßen bin ich euer treuer DankbarerSchreibversehen, statt: dankbarer. Sohn und Bruder
Franklin.


Der schlechten Schrift wegen bitte ich um Verzeihung. Ich mußte mich beeilen, damit das Paket noch zu BahnSchreibversehen, statt: zur Bahn. kommt.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt + Einzelblatt. Seitenmaß 14 x 22 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    21. Dezember 1885 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
122-125
Briefnummer:
38
Kommentar:
Im Erstdruck ohne die Nachbemerkung ediert. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 118-120 (Nr. 55).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, Emilie Wedekind, 21.12.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (01.07.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

17.06.2024 11:15