Schloß Lenzburg, 31. Mai 1886.
Lieber Franklin!
Um das Geschäftliche zuerst und schnell abzumachen, wirst Du
Dich erinnern, daß ich Dir vor einem MonatHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 27.4.1886. M 49 schuldig blieb; dazu fr. 150 oder M 121 für den Monat Juni, das macht M 170, welche anbei in 3 Reichsmarkscheinen à M 50 und 1 bayerischen
Staatscoupon à M 20
= M 170 erfolgen. –
Deinen l. Brief vom Freitagvgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 28.5.1886. Der Brief traf demnach am 30.5.1886 auf Schloss Lenzburg ein. erhielt ich gestern nach der Kirche zugleich mit
der Einlagenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 28.5.1886. an unsere gute Mati; sie war ganz entzückt, als ich ihr den Brief
an sie einhändigte und hat der Inhalt sie und uns alle eben sosehr erfreut; ich
soll Dir auch herzlich für denselben danken. In Bezug auf unser geistiges Leben
hat sich die hiesige Dichterzahl schon wieder um einen vermehrt und zwar
abermals um einen tapfern SchwedenAugust Strindberg, „der sich im Mai 1886 in der 4 km von Lenzburg entfernten Gemeinde Othmarsingen mit seiner Familie aufhielt. Von dort aus besuchte er mehrmals den auf dem im Besitz der Familie Hünerwadel sich befindenden Schloss Brunegg seit 1885 vorübergehend einquartierten schwed. Dichter Verner von Heidenstam“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 106]., der in Othmarsingen im RößliIm Gasthof zum Rößli in Othmarsingen logierte August Strindberg – nach einem Aufenthalt in Brunegg –, seit dem 17.5.1886, wie ein Brief an Verner von Heidenstam belegt [in: Karin Naumann. Utopien von Freiheit. Die Schweiz im Spiegel schwedischer Literatur. Basel, Frankfurt a. M. 1994, S. 99]. sein Quartier
aufgeschlagen und pr Telephon mit seinem Landsmann auf
BruneggVerner von Heidenstam wohnte mit seiner Frau seit dem 1.5.1886 zur Miete auf Schloss Brunegg [vgl. Edward Attendorf: Von den Dichtern Heidenstam und Strindberg und König Gustav IV. von Schweden (1792–1809), der als Oberst Gustavson in Lenzburg lebte. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Jg. 29, 1958, S. 3f.]. seine Gedanken auswechselt; vor einigen Tagen soll er in Stockholm ein BuchDie Fortsetzung von August Strindbergs Erzählungssammlung „Giftas“ (‚Heiraten‘) mit weiteren 18 ‚Ehegeschichten‘ erschien bei Kungsholms bokhandel in Stockholm in der ersten Jahreshälfte 1886. Der erste Band von „Giftas“ (1884) mit 12 Geschichten hatte einen Prozess wegen Gotteslästerung zur Folge, bei dem Strindberg jedoch freigesprochen wurde. Die von Wedekinds Vater angegebene Honorarhöhe ließ sich nicht belegen, wohl irrtümlich für 2000 francs [vgl. Göran Hägg: Sanningen är alltid oförskämd. En biografi över August Strindberg. Stockholm 2016].
herausgegeben haben, das ihm fr. 20000 an Honorar, wie man erzählt, eingetragen hat. Als ich Dir in
meinem letzten Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 27.4.1886. von der Anthologiedie von Wilhelm Arent herausgegebene und von Hermann Conradi und Karl Henckell mit Einleitungen versehene, im Selbstverlag publizierte frühnaturalistische Lyrik-Anthologie „Moderne Dichter-Charaktere“ (1885). der neuen Dichterschule sprach, kannte
ich sie noch nicht; gleich darauf hat mir Mama dieselbe zum Lesen gegeben und
nachdem ich darin herumgeblättert, fand ich meist nur unreifes Zeug und
confusen Schafmist, zwei Gedichte aber, eines „à la Makartdas Gedicht „À la Makart“ von Wilhelm Arent [in: Moderne Dichter-Charaktere. Hg. von Wilhelm Arent. Berlin 1885, S. 18f.], das einen Liebesakt schildert. Der Stil des Malers Hans Makart gehörte – neben Michelangelo, Tizian und Rubens – zu Wedekinds geschätzten Kunstrichtungen, wie er später in einem Fragebogen Maximilian Hardens angab [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 10.9.1913].“
betitelt, und das anderedas Gedicht „Das verlorene Paradies“ von Hermann Conradi [in: Moderne Dichter-Charaktere. Hg. von Wilhelm Arent. Berlin 1885, S. 98f.]., seine Lustnacht im Bordell beschreibend, von CorradiSchreibversehen (durchgängig), statt: Conradi., sind unfläthig im höchsten Grade und habe ich darum Mama veranlaßt,
sofort H. Henckell das Buch wieder zurückzugeben,
denn dasselbe paßt nicht auf einen anständigen Tisch. Wenn dieser H. Corradi
solche Erlebnisse,
über die man doch kaum redet, poetisch beschreibt und verherrlicht, dann wird,
um den Realismus noch weiter zu treiben, das nächste sein, daß er auch etwa den
Vorgang des Stuhlganges mit allen seinen Details in wohlgesetzten Versen zum
Besten gibt, wie wir es ja einmal gelesen haben in Prosa in einer Correspondenzin der sechsbändigen Ausgabe (1867-1881) der „Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans. Aus den Jahren 1676 bis 1722“, hg. v. Wilhelm Ludwig Holland. Auf welchen der Briefe Wedekinds Vater hier anspielt, ist nicht ermittelt; Verdauungsprobleme sind wiederholt Gegenstand der Korrespondenz.
über die Wonne des AufdemAbtrittsitzens zwischen der Her|zogin von Orléans,
geb.
Pfalzgräfin bei Rhein und ihrer Schwesterdie Kurfürstin Sophie von Hannover, eine Adressatin der „Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans“ war nicht die Schwester, sondern die Tante von Elisabeth Charlotte und hatte sich in ihrer Kindheit um sie gekümmert. , der genialen Kurfürstin Sophie von
Hannover, der Freundin des großen LeibnitzGottfried Wilhelm Leibniz war seit 1676 Hofbibliothekar in Hannover, seit 1691 auch in Wolfenbüttel, und Gesprächs- und Korrespondenzpartner der Kurfürstin.. Wollen die HH. Corradi
und Consorten solche Themata bearbeiten, dann können sie ihre Gedichte auch à
la Fritz Mauthner überschreiben: „Nach berühmten Mustern1878 erstmals bei Speemann in Stuttgart erschienene und in der Folge erweiterte, auflagenstarke Sammlung mit Parodien zu bekannten zeitgenössischen Autoren von Fritz Mauthner.“. In meinen Augen sind
oben erwähnte Corradi’sche Produkte und noch einige
andere in der Anthologie enthaltene die reinste oder vielmehr unreinste
Dreckpoesie und es ist SchadeSchreibversehen, statt: schade., daß H. Henckell sich in einer so unsaubern
Gesellschaft befindet. Was er dazu geliefertKarl Henckell hat zu der Anthologie „Moderne Dichter-Charaktere“ ein Vorwort („Die neue Lyrik“) beigesteuert sowie 20 Gedichte, von denen 11 als Originalbeiträge gekennzeichnet sind. sind 4 oder 5 kleine, harmlose
Gedichte und ein größeres „das Nachtleben“ in BerlinKarl Henckells Gedicht „Berliner Abendbild“ [in: Moderne Dichter-Charaktere. Hg. von Wilhelm Arent. Berlin 1885, S. 278-280], zuerst erschienen in seiner Gedichtsammlung „Poetisches Skizzenbuch“ vom gleichen Jahr.“, in welcher
Reichshauptstadt, wie es in seiner kurzen BiographieDort hieß es: „Nach halbjährigem Aufenthalte an der Berliner Universität, der H. indeß mehr zur Erkenntniß modernen Lebens und Treibens förderlich war, als daß er seinen philologischen Fachstudien in besonderem Maße gedient hätte, wurde H. im Frühjahr 1884 in seiner Vaterstadt von einer schweren Krankheit, vorzugsweise des Kopfnervensystems, ergriffen, von der er nach überstandener Krisis in der herrlichen Umgebung Heidelbergs Genesung suchte und ganz allmählich fand.“ [Moderne Dichter-Charaktere. Hg. von Wilhelm Arent. Berlin 1885, S. 297] in der Anthologie heißt,
er sich weniger mit der Betrachtung des Ganges der Wissenschaften als der
Beobachtung des großstädtischen Lebens wie bei Tag so auch bei Nacht
beschäftigt hat. Schön, und geradezu rührend ist ein kleines Gedicht von ihm an
seine Mutterdas Gedicht „Meiner Mutter“ [in: Moderne Dichter-Charaktere. Hg. von Wilhelm Arent. Berlin 1885, S. 287f.]., als sie ihn, der geistig erkrankt und fast übergeschnappt war, in
Heidelberg längere Zeit gepflegt hatte. So etwas paßt nun am allerwenigsten in
die Sudelpoesie,
die die Anthologie vielfach enthält und das sieht H. Henckell auch uns gegenüber ein, die wir
ihm jederzeit, so oft er kommt und er kommt jede Woche, ganz reinen Wein
einschenken, sowohl von unserm Eigengewächs als auch von unsern Ansichten über die
„Neue Poesiewohl in Anspielung auf Karl Henckells Vorwort „Die neue Lyrik“ in Wilhelm Arents Anthologie [vgl. Moderne Dichter-Charaktere. Hg. von Wilhelm Arent. Berlin 1885, S. V-VII].“. In bezug auf diese hat Mama ihm sogar Dein derbes Urtheil aus
Deinem letzten Briefe an sievgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.5.1886. vorgelesen und hat H. Henckell dasselbe ganz gutmüthig
aufgenommen. Du siehst also, an einer gewissen Einwirkung, wie Du sie in Deinem
letzten Briefe meinerseitsvgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 28.5.1886. wünschest, hat es bisher schon nicht gemangelt und
wird dieselbe auch hoffentlich ihre Früchte tragen. Sobald Du hieher kommst,
kannst Du Dich dieser Aufgabe selber unterziehen und wirst dabei vielleicht noch von dem Papa Henckell, der auch im Sommer zu kommen versprochen hat, nach Kräften
unterstützt werden. An den FinanzswulitätenSchreibversehen statt: Finanzschwulitäten; Schwulität = Verlegenheit, Bedrängnis [vgl. DWB 15, Sp. 2750]. des Bayernkönigs nimm Dir ein
abschreckendes Beispiel und suche stets mit Deinem Wechsel auszukommen, time Manichaeos!(lat.) fürchte die Manichäer; im Sinne von: fürchte die Abweichler. | Indem mich Deine brüderliche
Theilnahme, wie Du sie in Deinem gestrigen Briefevgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 28.5.1886; der Brief traf demnach am 30.5.1886 in Lenzburg ein. beurkundest, herzlich freut,
will ich nicht verfehlen, Dir nun auch über Willis weiteres SchicksalWilliam Wedekind war Ende April nach Amerika aufgebrochen und blieb dort drei Jahre lang. zu
berichten: Als Doda und ich, wie Du aus meinem letzten Briefenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 27.4.1886. ersehen, ihm die
Sehenswürdigkeiten Basels, wo er noch nicht gewesen, gezeigt hatten, kehrten
wir gegen 5 Uhr alle drei in das am Bahnhofplatz gelegene Auswanderer-Hotel, „du JuraDas Hôtel Jura am Basler Bahnhofsplatz galt als Hotel „III. Ranges“ [Führer durch Basel und Umgebung. Würzburg, Wien 1885, S. 5].“, zurück und fanden daselbst im Wirthszimmer Frau Schöpf
inmitten einer Schaar Auswanderer auf der Bank sitzen. Nachdem wir uns zu ihr
gesetzt erschien bald darauf auch H. Schöpf mit einem andern jüngern Herrn, den er uns als einen H. Furk vorstellte, der lange Jahre in
Denver, der Hptstadt Colorado’s,
gewesen u daselbst eine Wirtschaft betrieben, vor einem Jahr aber von Amerika
zurückgekehrt, in Lenzburg die Bäckerei und Wirthschaft von Rubli
übernommen hatte, was wir weder wußten noch auch den Herrn früher kannten. Als
es nun zum Abschied kam empfahl ich nochmals dringend unsern Willi der Obhut
von H. Schöpf und
bat ihn, wenn Willi irgend etwas zustoßen sollte, ihm als Freund beizustehen, zu helfen und mich sofort
zu benachrichtigen, indem ich, zu H. Furk gewandt, auch diesem sagte: „Nicht
wahr, als Lenzburger darf ich auch Sie wohl bitten m/s/ich meines Sohnes
im Fall der Noth anzunehmen“, was er denn auch bejahte. Gleich drauf
begleiteten Willi und H. Schöpf uns nach dem Bahnhof und fuhren Doda und ich, nachdem wir uns
verabschiedet, nach Lenzburg zurück. Das war am Ch/G/ründonnerstagder 22.4.1886. und
sollte Willi am andern Morgen, Charfreitag, früh 6 Uhr von Basel und am Tag
daraufam 24.4.1886. nachmittags von Havre abfahren, was denn auch geschehen ist. Eine Woche
später, am 1. oder 2. Mai ist das Schiff, die sehr schnell fahrende „Normandie“ in Newyork angekommenDie „Normandie“ traf am 3.5.1886 in New York ein., und, weil ich Willi gebeten,
täglich an Bord einige Zeilen an uns zu schreiben und sie dann gleich nach der
Ankunft in Newyork auf die Post zu geben, so warteten wir vom 15. Mai an
tagtäglich auf diesen Brief von Willi, aber immer vergebens. Da endlich am 22.
Mai, Sonnabend, wird mir nachmittags auf der Post ein Brief aus Newyork
eingehändigt mit einer Adresse von mir ganz unbekannter Hand. | Ohne ihn zu
öffnen und von bangen Ahnungen ergriffen schleppte ich mich den Berg hinauf und
bat, oben angekommen, Mama mich auf mein Zimmer zu begleiten+. Hier erbrach ich
das Couvert und nachdem ich aus der Unterschrift ersehen, daß sie von H. Furk war, fing ich an den Brief
vorzulesen. Gleich der erste Satz, wo von der „schmerzlich Pflicht“ die Rede
war, stimmte Mama und mich ganz traurig, und als dann weiter die Stelle kam, wo
es heißt: „daß Willi gleich am dritten Tage nach der Abfahrt auf dem Verdeck
ausgeglitten und so unglücklich gefallen sei“, da überfiel uns beide im ersten
Augenblick ein wahrer Schrecken, indem wir das Schlimmste befürchteten.
Glücklicher Weise aber war das nicht eingetreten, sondern hat Willi das
Fußgelenk – welcher Seite ist nicht gesagt –, bei seinem Falle ausgerenkt, ist
dann, als nach 10 Minuten der Fuß arg anschwoll und stark zu schmerzen anfing,
aber von H. Furk
ins SchiffslarethSchreibversehen, statt: Schiffslazarett.
getragen worden, wo er unglücklicher Weise in die Hände eines so schlechten
Arztesnicht identifiziert. fiel, daß dieser das Gelenk nicht gleich wieder ordentlich einzurichten
verstand. So „klagte Willi immer über Schmerzen, doch sein guter Humor ließ ihn dieselben
überwinden. In Newyork angekommen brachte ich ihn zu einer Tante, deren Adresse
er hatte, Mrs KammererElizabeth Kammerer, geb. Engel, Schwägerin von Wedekinds Mutter, die am 17.1.1869 Wedekinds Onkel Libert Kammerer geheiratet hatte, der 1865 nach Amerika ausgewandert war und vermutlich 1885 verstarb.“ (der Wittwe Liberts) „bei der er
momentan liegt. Es wurde ein hiesiger Arztnicht identifiziert. beigezogen, indem die Geschwulst
nicht nachließ, und dieser erklärte, daß das Gelenk frisch eingerichtet werden
müsse, was auch unter Schmerzen geschah. Jetzt“ (der Brief ist vom 8. Mai, also
eine Woche nach der Ankunft in Newyork) „befindet er sich besser und die
Geschwulst hat nachgelassen, mir sagt der Arzt, daß es immerhin noch 3 – 4
Wochen dauern werde, ehe er gehen könne. Mrs Kammerer
thut alles, was in ihren Kräften steht, indem sie 6 Kinder hat, ihr Mann todt
ist und sie wäscht und bügelt. Ihr Sohn, dem die Zeit im Bett zu liegen zu lang wird, weigerte sich
zu schreiben, bis er gehen könne, um Ihnen Kummer und Sorge zu ersparen. Doch
ich hielt es für meine Pflicht. Herr Schöpf und Frau sind schon am Dienstag, dem
zweiten Tag nach der Ankunft in Newyork, weiter auf ihre Farm gereist.“ So
schreibt H. Furk.
| Indem wir Gott aufs innigste danken müssen, daß Willi nichts Schlimmeres
widerfahren ist, hat dieser unglückliche Zwischenfall wahrscheinlich den ganzen
Plan, den wir für dort miteinander verabredet, zu nichte gemacht und besteht, so lange wir keine bessern
Nachrichten haben,
noch immer die Befürchtung, daß diese LuxationVerrenkung. ihn dauernd schädigen, ja gar zum Krüppel machen kann.
Das Richtigste wäre gewesen, Willi sofort nach seiner Ankunft in Newyork in das
dortige deutschedas 1857 gegründete German Hospital and Dispensary of New York, seit 1884 in der 2nd Avenue in der Lower East Side von Manhattan. oder ein amerikanische Hospital zu bringen, wo er jedenfalls
in die Hände eines wirklichen Chirurgen gekommen wäre, der Verband von geübter
Hand gemacht und ihm die richtige Lagerstätte zu Theil geworden sein würde.
Statt dessen lag er oder liegt vielleicht noch in einem engen Logis, wo kaum B/P/latz
für die eigenen Bewohner, in beständigenSchreibversehen, statt: in beständigem. Kohlendunst des Glätteeisens, in sonst
schlechter Luft bei ungenügender Kost und in einem zu warmen Bett, welches ihm
das Blut in den kranken Fuß treibt. Nach nunmehr weitern 9 Tage Wartens noch
immer kein Brief von Willi selbst, auch nicht von Mrs Kammerer oder der TillyWedekinds Cousine Tilly Kammerer, Tochter von Elizabeth Kammerer, die im Jahr zuvor in Lenzburg zu Besuch gewesen war [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 17.8.1885]., deren heilige Pflicht es doch gewesen wäre, uns gleich zu
schreiben, als Willi in ihr Logis gebracht worden war, auch nichts von H. Schöpf, der mir doch
fest versprochen hatte, bei irgend einem Unfall sofort zu schreiben. Hätte H. Furk dieses nun nicht gethan, dann
hätten wir gar nichts erfahren. Eine Stunde nach Ankunft seines Briefes schrieb
Mama sogleich an ihre Schwägerin und Willi in zwei gesonderten Briefendie Korrespondenzen der Mutter sind nicht überliefert. und ich
am nächsten Tage an H. Furk,
um ihm zu danken und zu bitten, sich auch fernerhin Willis anzunehmen. Diese
drei Briefe müssen in 8 Tagen von jetzt an drüben sein und können wir um
Johannider Johannistag am 24.6.1886. die Antwort darauf haben. Das
sind noch drei Wochen ängstlichen Harrens, welches mir viel Sorgen machen wird,
denn die Möglichkeit existirt immer noch, daß sich nicht alles so verhält, wie
H. Furk
geschrieben, daß Willi an Bord vielleicht in die Hände von Spielern gefallen
ist, diese ihm sein Geld abgeschwindelt und ihn schließlich noch malträtirtmisshandelt.
haben. Wann wird die Sorge um ihn endlich mal aufhören? | Meine eigene ReconvalescenzGenesung. schritt langsam voran und
spüre ich noch immer die f/F/olgen meiner Krankheit, indem ein leichter
Bronchialkatarrh noch immer vorhanden ist und es mir wegen Luftbeklemmung schwer wird bergan zu
steigen. Am 1ten Mai ging ich zuerst wieder in den Hof und spielte an den folgenden, warmen Tagen öfters mit
den KindernEmilie (Mati) und Donald Wedekind, 10 und 14 Jahre alt. croquetteCroquet, „ein aus England herübergekommenes, jetzt in Deutschland sehr beliebtes Gesellschaftsspiel, das auf einem kurz gemähten Rasenplatz oder auf einem andern ebenen Platz gespielt wird. Man treibt in der Mitte eines solchen Platzes 8–10 eiserne Bogen so in die Erde, daß sei ein Kreuz, ein Achteck oder auch eine andre Figur bilden [...] die Aufgabe ist nun, die hölzernen Spielbälle mittels der ebenfalls hölzernen Hämmer [...] an langem Stiel durch sämtliche Bogen zu treiben“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Band 3. Leipzig 1886, S. 347].. Am 17. Mai nahm ich mich
zusammen und ging die Höhle hinunter und die Othmarsinger Straße hinaus zu den
zwei Buchen, wo ich den Oberstennicht sicher identifiziert, möglicherweise der Vater von Minna von Greyerz, Oberst Walo von Greyerz, Forstverwalter von Lenzburg, oder der Vater von Sophie Haemmerli-Marti, Oberst Franz Marti aus Othmarsingen, Bezirksamtmann in Lenzburg. traf und mit ihm durch den Wald und über die
SchützenmatteFestwiese in Lenzburg. heimkehrte. Seitdem bin ich fast täglich in die Stadt, einmal
nach Aarau zur KunstausstellungDie allgemeine schweizerische Kunstausstellung war eine Wanderausstellung, die vom 9. bis 30. Mai in Aarau zu sehen war [vgl. Der Bund. Jg. 37, Nr. 35, 5.2.1886, S. (3)]. Die Presse berichtete ausführlich über die gezeigten Bilder [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 32, Nr. 116, 18.5.1886, S. (2-3) und Nr. 117, 19.5.1886, S. (2)]. und zweimal nach Zürich. Als ich das letzte
Mal, am Donnerstagden 27.5.1886., Abend von da heimkam der, fand ich den armen Hermann
Plümacher vor, der drei Stunden vorher von GersauHermann Plümacher, der Sohn von Wedekinds Tante Olga Plümacher, war wegen eines Lungenleidens seit dem 20.3.1886 zur Erholung in Gersau gewesen [vgl. Olga Plümacher an Frank Wedekind, 2.5.1886].
angekommen war. Er sieht besser aus, als wir erwarteten, und scheint es ihm
hier bei dem schönen warmen Wetter gut zu thun; er läßt Dich grüßen und wird
Dir von hier aus bald auf Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Hermann Plümacher, 3.4.1886. antworten. – Hammi
ist seit einigen Wochen Assistent beim Bezirksarzt Dr.
Frey in Hottingen, der
sehr viel zu thun hat und auch viel verstehen soll. Hammi hat seine Kost bei ihm und wohnt in einem
Haus gegenüber, beides auf Rechnung von Dr.
Frey; dabei kann er seine
Collegien wie gewöhnlich besuchen, wird aber erst im Oktober sein ExamenArmin Wedekind fiel Anfang 1887 beim ersten Versuch, sein Medizinexamen zu absolvieren, durch, bestand aber dann am Ende des Jahres und verließ am 15.12.1887 die Universität Zürich mit Zeugnis [vgl. Matrikeledition der Universität Zürich, Nr. 6136; https://www.matrikel.uzh.ch].
machen. MinnaMinna von Greyerz absolvierte seit Ende August 1884 am Königlichen Conservatorium für Musik in Dresden eine Klavier- und Gesangsausbildung und kehrte im Frühjahr 1887 nach Lenzburg zurück, „wo sie als Klavier- und Gesangslehrerin tätig blieb.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 120] hat es von ihrem Papa erlangt, daß sie noch ein Jahr länger in
Dresden bleibt, worauf sie dann ein regelrechtes Diplom als Gesangslehrerin
erhalten wird. – Der selige Scheffel hat im J. 1863 ein Jahr lang im
SternenViktor von Scheffel wohnte in der Lenzburg benachbarten Ortschaft Seon nicht 1863 im Gasthof „Sternen“, sondern erst von 1864 bis 1865 „in dem auf dem Seoner Berg gelegenen Landhaus des mit ihm befreundeten Literaten und Oberrichters Johann Eduard Dössekel“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 112]. in Seon gewohnt, gleich nach seiner
VerheirathungViktor von Scheffel heiratete am 22.8.1864 in Karlsruhe Caroline Freiin von Malsen, die Tochter des bayerischen Gesandten am badischen Hof. Das Paar trennte sich noch vor der Geburt des gemeinsamen Sohnes am 20.5.1867, ohne sich jedoch scheiden zu lassen. und weil er damals schon zu oft selighier im Sinne von betrunken; Viktor Scheffel war als Dichter von Studentenliedern bekannt. war, so fand bald die
Scheidung statt. Der „Erratische Block„Der erratische Block“ (1864), Gedicht von Viktor Scheffel, dessen vorletzte Strophe lautet: „Dies Lied ist zwei Forschern gelungen / Im Gau zwischen Aare und Reuß. / Das Wirthshaus, in dem sie es sungen, / War ganz von erratischem Gneus.“ [Joseph Viktor Scheffel: Gaudeamus! Lieder aus dem Engeren und Weiteren. Stuttgart 1868, S. 17]“ entstand im Wirtshaus zu Birmensstorfdie 15 km von Lenzburg entfernte Ortschaft Birmenstorf, an der Reuss gelegen, die gemeinsam mit der Aare das Birrfeld einschließt.,
im Birrfeld, und soll der zweite Dichter desselben der PapaJakob Schibler, von 1855 bis 1872 Chemielehrer an der Kantonsschule Aarau. von m/D/einem Freund l/S/chibler
gewesen sein, der damals Naturgeschichte in Aarau lehrte. – Jetzt, lieber Bebiinnerfamiliärer Kosename Frank Wedekinds.,
lebe wohl, halte Dich gut und bleibe gesund und paße auf, daß es Dir nicht
wieder wie im letzten JahrWedekind hatte sich am 3.8.1885 einen Rotlauf am linken Unterschenkel zugezogen, der im Krankenhaus behandelt werden musste und über den er seinen Vater Mitte August erstmals unterrichtete [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]. geht. Alle lassen Dich herzlich grüßen und ganz
besonders thut dies
Dein treuer Papa