München im Februar 1885.
Liebe Tante,
Ihr letzter lieber BriefOb Bertha Jahn Wedekinds letzten überlieferten Brief [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1884] tatsächlich beantwortet hat, der Brief aber verloren gegangen ist, wie Wedekind annahm, ist ungewiss. muß unter Wegs verloren gegangen
sein; aber da Sie das natürlich nicht wissen können und wahrscheinlich doch
eine Antwort von Ihrem gehorsamsten Neffen in München erwarten werden, so nehme
ich mir die Freiheit, Ihre werthen Zeilen, auch ohne sie gesehen zu haben, zu
beantworten, und muß dabei nur unendlich bedauern, daß mich die Unzuverlässigkeit der Verkehrsmittel um Ihren
heimatlichen Trost und so manches süße Wort der Freundschaft gebracht hat. –
Beim letzten Vollmondeder letzte Vollmond war am 30.1.1885 zu sehen. schaut’ ich lang empor | zu dem
vergoldeten Nachtwächter; aber an seiner langweiligen PhisiognomieSchreibversehen, statt: Physiognomie. war mit
Leichtigkeit zu erkennen, daß Ihre schönen Augen, liebe Tante, nicht auf ihn
gerichtet sein konnten; sonst hätte er mir doch wol auch einen so freundlichen
Gruß zugewinkt, wie ich ihm deren viele nach Lenzburg auftrug. Wer weiß, vielleicht lagen ja auch schwere
Schneewolken über der Heimat und hinderten der/n/ freien Verkehr mit der
Sternenwelt. Düsteres Ungemach verstimmt die Seele und läßt die Erinnerung an
sonnigere Vergangenheit nicht aufkommen. Aber, so Gott will, sind die Wolken
zerstreut, ist das Ungemach längst entflohn und die warmen Strahlen eines
verfrühten Lenzes erquicken auch jenseits des Rheines jedes fühlende Herz. –––
Seit einiger Zeit gastirt Frau Clara ZieglerDie Schauspielerin gastierte vom 21.1.1885 bis 14.2.1885 am Hoftheater München: „Am Samstag, den 14. Februar wird Frau Klara Ziegler in der Titelrolle der Klein’schen Tragödie ‚Zenobia‘ ihr Gastspiel beschließen.“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 38, Nr. 43, 11.2.1885, S. 3] an der hiesigen
Hofbühne mit/und/ gab unter anderem auch | die Königin Elisabeth in Graf
EssexHeinrich Laubes „Graf Essex“ mit Clara Ziegler als Gast in der Rolle der Königin Elisabeth, wurde am Königlichen Hof- und Nationaltheater München am 26.1.1885 gespielt. Die Presse berichtete: „(Im Hoftheater) wurde gestern Heinrich Laubes Trauerspiel ‚Graf Essex‘ gegeben. Stück und Darstellung sind von früher her bekannt. Nur die Rolle der Königin war neu besetzt – durch Frau Klara Ziegler. Wenn die Kritik berichtet hat, daß jeder Szene der ‚Elisabeth‘ der stürmische Beifall einer begeisterten Zuhörerschaft folgte, so ist ihre Aufgabe damit eigentlich erschöpft. Denn es läßt sich jenem enthusiastisch gespendeten Lobe nichts hinzuzusetzen; es darf, auch von strenger Beurtheilung, nichts davon hinweg genommen werden.“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 38, Nr. 28, 28.1.1885, Erstes Blatt, S. 3] Über das Spiel der Schauspielerin hieß es an anderer Stelle ausführlicher: „Dem Tone fehlte im allgemeinen jene trockene, jene gemüthsleere Schärfe, welche wir von der Königin Elisabeth voraussetzen. Das klang so weich, so warm, ein rhythmisches, wohllautendes Element lag in dem Vortrag [...] Das Organ der Frau Clara Ziegler ist eben von Haus aus zu sympathisch, viel mehr für eine Stuart als eine Elisabeth geschaffen; die Laube’sche Elisabeth hat übrigens mehr Gemüth und wahre Empfindung als die Schiller’sche und historische. Vom dritten Acte an waren jedoch in dem vollmächtigen Ausdrucke von Eifersucht, Leidenschaft und Ingrimm Wohllaut wie Gefühlswärme verschlungen und erstickt, und ein nur von dem einen Trieb der Rachsucht erfülltes Weib stand vor uns. Und dabei doch eine Königin! Das ist der auszeichnende Vorzug der Ziegler’schen Elisabeth, daß in keinem Moment, in keiner Situation, auch nicht bei dem Durchbruch höchster Leidenschaftlichkeit, das königliche Wesen sich verläugnet, im kritischen Augenblick aber zu majestätischer Größe sich entfaltet. Denken wir uns Elisabeth, was in ‚Graf Essex‘ nicht ohne Berechtigung ist, als eine Königin, durchdrungen von Selbstgefühl und zugleich als ein wahrhaft liebendes, aber tief leidenschaftliches Weib, dann müssen wir die gesammte Darstellung unseres Gastes als ebenso berechtigt wie bewunderungswürdig anerkennen. Es ist psychische Entwicklung in ihrer Darstellung. [...] Die gastirende Künstlerin wurde für ihre großartigen Leistungen von den das letzte Plätzchen besetzenden Zuschauern mit begeistertem Beifall belohnt.“ [Allgemeine Zeitung, Nr. 28, 28.1.1885, Zweite Beilage, S. (1)]. Ihe/r/e Maske war so wahrheitsgetreu, daß ich während der
Aufführung oft mit Wohlgefallen an die schöne Elisabeth in LenzburgDas Liebhabertheater Lenzburg veranstaltete drei Aufführungen des Trauerspiels „Graf Essex“ von Heinrich Laube. Die letzte fand am Sonntag, 10.2.1884 statt [vgl. Aargauer Nachrichten 1884, Jg. 30, Nr. 30, 5.2.1884, S. (4)]. Über die zweite Aufführung vom 3.2.1884 schrieb die Presse: „Unsere Erwartungen waren nicht gering, wurden aber durch das Gebotene weit übertroffen. Die Darstellung stand auf einer künstlerischen Höhe, wie sie auf Bühnen mittlern Ranges gar nicht zu finden ist. Durch die volle Hingabe eines Jeden an seine Aufgabe, durch das wohldurchdachte Einleben aller Mitwirkenden in ihre Rollen war eine Abrundung in der Entwickelung des Stückes erzielt worden, welche das Drama zur Wirklichkeit machte. Jeder füllte seinen Platz ganz aus, die drei Hauptpersonen aber: Königin Elisabeth, Graf Essex und seine Gattin, die Gräfin Rutland, gaben ihre Rollen mit einer Vollendung, wie wir sie bisher bei Dilettanten für unmöglich gehalten hätten.“ [Intelligenzblatt für die Stadt Bern, Jg. 51, Nr. 38, 8.2.1884, S. 3] In der Aufführung spielte Fanny Oschwald die Rolle der Königin Elisabeth und Blanche Zweifel die der Gräfin Rutland.
zurückdachte; und auch ihr Spiel ließ sehr wenig von dem Idealen men/r/ken,
das nach Schiller aller Kunst innewohnen soll. Frau Ziegler war mehr Weib als
Königin und mehr Satan
als Weib, ganz im Gegensatz zu Frau Oschwald, und selbst die Königin i/c/harakterisirte
sie mehr durch Unanständigkeit und Schroffheit als durch Anstand und Würde. Bei
dieser äußersten Realistik trat denn auch die Poesielosigkeit des ganzen
Stückes, die sich in Lenzburg hinter der idealisirenden Auffassung gut
verborgen hatte, grell ans Tageslicht. Der Gräfin RutlandDie Rolle der Gräfin Rutland wurde in der Münchner Aufführung von Louise Werner verkörpert, die seit 1874 am Hoftheater engagiert war. fehlten alle Vorzüge der Erscheinung
und des Organes, über die Frau Zweifel in so reichem Maße verfügt. Bei ihrer
larmojantenlarmoyant = weinerlich. hohen Stimme klangen die philosophischen Tes/he/sen, die ihr
der | Dichter zur Hebung ihrer Rolle in den Mund legt, sehr komisch, und nur
die Wahnsinnscenedie 9. Szene des V. Aktes; Gräfin Rutlands Auftritt wird in der vorangegangenen Szene von Lady Nottingham mit den Worten angekündigt: „Anna ist Wahnsinnig!“ [Heinrich Laube: Graf Essex. Trauerspiel in fünf Akten. Leipzig 1856, S. 188] spielte sie so vollendet, so zartfühlend, mehr durch
Andeutung als durch Ausführung der Bewegungen und Gesten, so ätherisch, G/g/eisterhaft,
daß sie in meinen unmaßgeblichen Augen nicht nur Frau Zweifel, sondern auch die erste RutlandWann und mit welcher Schauspielerin in dieser Rolle Wedekind Henrich Laubes „Graf Essex“ erstmals sah, ist nicht ermittelt., die ich in
meinem Leben sah, bedeutend übertraf. –––
Liebe Tante, hat Sie vielleicht mein letzter BriefGemeint ist vermutlich nicht Wedekinds letzter Brief [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1884], sondern der vorangegangene [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 18.12.1884], dem die ersten vier Teile des Gedichts „Der Kuss“ beigelegen haben dürften. In dem Brief beklagte er auch die Abwesenheit seiner „Jungfer Muse“.
unangenehm berührt, oder gar verletzt? Es würde mir unendlich leid thun, denn
meine Absicht ist es auf Ehre nicht gewesen. Was ich Ihnen von meiner
poetischen Sterlilität schrieb, ist weder Ziererei noch irgend etwas
Schlimmeres. Außer den wenigen Strophen, die ich mir erlaubte meinem Briefe
beizulegen, hab’ ich hier in München noch nichts Gebundenesgemeint ist: in gebundener Sprache (als Synonym für Lyrik). producirt, als eine
schlechte DedicationText und Empfänger dieser Widmung sind nicht ermittelt. zu einer Schachtel | MoustachebalsamMittel zur Förderung des Bartwachstums bei jungen Männern; in einer Annonce hieß es: „Ein hübscher Schnurrbart ist die schönste Zierde des Jünglings. Ohne Schnurrbart keine Liebe bei den Mädchen. Ohne Schnurrbart kein Kuß. Wem der Schnurrbart noch fehlt, der bestelle gleich 1 Fl. Moustache-Balsam“ [Neuigkeits Welt-Blatt, Nr. 73, 30.3.1882, S. (10)]. Die Wirksamkeit solcher Mittel war zeitgenössisch umstritten und führte regelmäßig zu Prozessen wegen Betrugs. , die vom Empfänger
zerrissen wurde. Woher dieser Mangel an Productivität kommt, weiß ich kaum zu sagen. Ich hoffe, daß der
Frühling mir neue Lieder bringen wird.
Fräulein Lisa weilt nun wol schon am schönen Genferseeim Pensionat Duplant in Lausanne in der Villa „La Verger“ (Rue de Valentin 65), das später auch Wedekinds Schwester Erika und Lisa Jahns jüngere Schwester Hanna besuchten [vgl. Bertha Jahn an Wedekind, 22.6.1887]., und
ihre geliebte Frau Mamm/a/a ist wieder um ein liebes Wesen
einsamer geworden. Das mag Ihnen recht schwer ankommen, aber die lustige Hanna
wird Ihnen durch ihre Laune ja manche Stunde erheitern. Erlauben Sie an sie und Victor meine
herzlichsten Grüße. Ich verbleibe in kindlicher Ergebenheit Ihr getreuer Neffe Franklin.