München September 85.
Liebe, gute, geliebte Tante!
Was werden Sie von mir denken, daß
ich Ihren lieben freundlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 14.8.1885. so lange ohne irgend eine Antwort lasse.
Aber Sie müssen die v/V/erhältnisse kennen, dann werden Sie mir gewiß
verzeihen, wenn ich auch in keiner Weise zu entschuldigen bin. Ich war Ihnen
zwar noch von früher her einen Brief schuldigHinweis auf einen weiteren unbeantworteten, nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 23.7.1885.Hinweis auf einen weiteren unbeantworteten Brief, nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 23.7.1885. und es wäre mir gewiß längst das
größte Vergnügen
gewesen, Ihnen zu schreiben; aber da kam mir meine KrankheitWedekind hatte sich am 3.8.1885 einen Rotlauf (s. u.) am linken Unterschenkel zugezogen und war deswegen seit dem 5.8.1885 stationär im Krankenhaus links der Isar. Über die Erkrankung informierte er seinen Vater erstmals Mitte August [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]. in die Quere und
machteam rechten Seitenrand notierte Bertha Jahn unter einem Strich (um 90 Grad gedreht in lateinischer Schrift): „Wenn man wirklich das Bedürfniss z. schreiben gehabt, hätte man Zeit gefunden!“ mir einen Strich dadurch und durch so vieles Schöne, das ich mir für
diese FerienWedekind hatte geplant, die Semesterferien ab dem 15.8.1885 in Lenzburg zu verbringen [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 25.7.1885]. ausgesonnen hatte. – Jetzt wohn’ ich schon lange nicht mehr | daheim
auf meiner trauten Bude in der SchellingstraßeWedekind zog nach dem Studienortwechsel seines Bruders Armin nach Zürich im April 1885 von dem gemeinsamen Zimmer in der Türkenstraße 30, 1. Stock, in die Schellingstraße 27, 3. Stock, um. Das Haus mit der neuen Wohnung lag in unmittelbarer Nähe zu seinem alten Zimmer: „Zwischen 27 und 29 Türkenstrasse“ [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil II, S. 407 und 1886, Teil II, S. 416].; wie lange, das darf ich Ihnen
gar nicht sagen; und in einem großen Krankenhaus, wo v/V/iele beisammenWedekind war im Studentensaal des Universitätsspitals, dem Krankenhaus links der Isar, untergebracht [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885].
sind und sich zu unterhalten suchen, da ist es den Tag über recht schwer sich zu einem Briefe s/z/u
sammeln; und wie hätte ich da erst die richtige Stimmung finden sollen, die
würdig gewesenAm linken Seitenrand zog Bertha Jahn einen Längsstrich (von „gewesen“ bis „zu lassen!“) und notierte daneben ein Fragezeichen („?“). wäre, mich mit Ihnen, geliebte Tante im Geiste verkehren zu
lassen! Aber des Nachts, wenn die Lampe in Mitten des Saales nur noch
ganz düster brennt, wenn die Andern alle schnarchen und ich gewöhnlich nicht schlafen kann, dann
denke ich an „Sieam linken Seitenrand notierte Bertha Jahn (um 90 Grad gedreht und durch Einweisungszeichen markiert) dazu: „an Sie u. so viel Andere“.“, liebe Tante, und es bemächtigt sich meiner eine
unbeschreiblich freudige Aufregung. Gar bald hab’ ich vollständig vergessen, in
welch’ engen Schranken ich gefesselt liege und Worte und Bilder, die längst ver|weht
und vergangen sind, beleben meine Sinne. O, wie oft schon glaubt ich mich in
dieser Weise an Ihrer Seite sitzend im grünenden Garten unter heiterem
Geplauder – und wenn ich aus der schönen Vergangenheit nicht mehr weiter wußte,
so machte ich eine noch schönere Gegenwart dazu. Gegen Ende der Geisterstundedie Zeit zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens.
bin ich dann meist in einer solchen Aufregung, wär daß es Thorheit wäre,
den Schlaf ohne Weiteres erwarten zu wollen. Ich erbitte mir von der Schwester ein/zw/ei
Schlafpulver, um dann erst recht von Ihnen zu träumen bis zum lichten Morgen.
–––Bertha Jahn notierte in der Zeile nach dem Gedankenstrich: „(wer’s glaubt!)“
Sie schreiben, lieben Tante, daß Sie meinetwegen
besorgt gewesen seien. So sehr ich mich dadurch auch geschmeichelt und Ihnen zu
Dank verpflichtet fühle, so war ich doch Ihrer ängstlichen Theilnahme meiner Krankheit wegen nicht
sonderlich werth. Ich hatte zuerst einen Rothlaufbakterielle Entzündung der oberen Hautschichten, auch: Wundrose oder Erysipel, „welche sich durch ihre Rosenröte, durch Schwellung und Schmerzhaftigkeit, durch ihr Fortschreiten oft über große Körperflächen auszeichnet und meist mit Fieber verbunden ist. [...] Im gewöhnlichen Verlauf steigert sich die Entzündung und das Fieber etwa 8–14 Tage lang, dann schwillt der kranke Teil ab. [...] Die besten Erfolge sieht man von zahlreichen Einstichen mit einem schmalen, scharfen Messer, welche in einer gewissen Entfernung von der roten Schwellung im Gesunden vorgenommen werden und nicht selten das Fortschreiten der Entzündung hindern. Sobald Eiterung oder Brand beginnt, müssen lange Einschnitte gemacht werden, kurz es treten dann alle Mittel der chirurgischen Behandlung ein, die nicht so selten in der Amputation ganzer Glieder ihren Abschluß findet.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 13. Leipzig 1889, S. 966] und dann einen Absceß„eine mit Eiter gefüllte Höhlung innerhalb der Gewebe des Körpers“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 1. Leipzig 1885, S. 55]. am
Bein, alles absolut schmerzlos aber höchst langweilig und langwierig; ich werde
wol erst binnen der nächsten 8 Tage heimkehrenWedekind wurde erst am 18.9.1885 entlassen und reiste am 20.9.1885 nach Lenzburg [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 18.9.1885]. Am 2.11.1885 kehrte er dann zur Fortsetzung seines Studiums nach München zurück [vgl. Frank Wedekind an William Wedekind, 28.10.1885]. können. Einstweilen muß ich noch
im Krankensaal bleiben und hinke am Stock umher | wie ein alter Invalide, und
auch wenn ich nach Lenzburg komme, werde ich mich wol noch nicht neben einen
Singhalesen stellen können. Nachdem ich Ir/hr/en lieben Brief gelesen,
begann ich in der That ernstlich zu bereuen, daß ich die CaravaneÜber die Ausstellung „Die Singhalesen“ von Carl Hagenbeck, die seit Monaten durch Europa tourte und vom 1.8. bis 13.8.1885 in Zürich gastierte, bemerkte die Presse: „Das Zürcher Tagesereigniß sind [...] die Singhalesen. Gestern, Sonntag, war ihre Bude von 10,136 Personen besucht; ein Glück, daß Regen fiel und Manchem den Eifer kühlte, die wunderbaren Menschen und Thiere aus Ceylon zu sehen – sonst hätte es ein Gedränge gegeben, daß kein Elephant mehr hindurch gekommen wäre.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 25, Nr. 215, Zweites Blatt, 3.8.1885, S. (2)] 1887 eröffnete Carl Hagenbeck seinen ‚Internationalen Circus und Singhalesen-Karawane‘. dieser
herrlichen Männer während ihres HierseinsIn München gastierte die Ausstellung Ende April 1885. Die Presse berichtete: „Die Singhalesen-Carawane, deren Ankunft bereits von den Münchner Zeitungen signalisirt wurde, ist am 24. ds. M. Abend 7 Uhr 40 Minuten direkt von Marseille kommend hier eingetroffen.“ Nachdem sich die „Mitglieder der Carawane [...] im Café Gaßner etwas restaurirt, wurden sie sofort nach dem Ausstellungs-Gebäude auf die Theresienwiese geführt, wo es sich die schwarzen Menschenbrüder nach ihrer Art bequem machten. [...] Unter den exotischen Gästen [...] befand sich der zur Truppe gehörende Oberpriester Piyaratne-Una, der Schamanen-Vortänzer Kiriwedda, die Teufelstänzer Ukkubanda und Kiribanda sowie schließlich die beiden Tamils, d. h. aus Südindien eingewanderte Bewohner Ceylons, mit Namen Mutasami und Frau. [...] Die Ausstellung ist am Samstag Nachmittags 3 Uhr [25.4.1885] im Beisein eines geladenen distinguirten Publikums in dem neu erbauten Ausstellungsgebäude auf der Theresienwiese offiziell eröffnet worden. [...] Nach einer eingehenden Besichtigung der baulichen Anlagen nahmen die eigentlichen Schaustellungen ihren Anfang. Diese wurden eingeleitet durch Tanzbelustigungen, welche die Singhalesen in ihrer Heimath bei verschiedenen familiären Veranlassungen wie z. B. Kindsgeburten, Hochzeiten etc. aufführen. Ihnen schloß sich ein religiöser Tanz an, der von Schamanen zur Erflehung von Regen, guter Ernte, Gesundheit, noch heutzutage auf Ceylon angewandt wird. Zu beiden Tanzarten schlugen Trommler, eigenthümlich geformte Trommeln, ‚Drolen‘ genannt, mit einem gewissen Rythmus, während die Tänzer selbst sich mit Schellengeläute und etwas eintönigem Gesang accompagnirten. An einem andern Ende des Raumes hatten sich gleichzeitig mehrere singhalesische Frauen um eine große Trommel ‚Rabanna‘ genannt, gehockt, um dieselbe unaufhörlich mit ihren flachen Händen zu bearbeiten. Die nächste Nummer war eine Produktion eines phantastisch gekleideten singhalesischen Stelzenkünstlers, der Unglaubliches auf meterhohen Stelzen leistete Ihm folgte singhalesische Teufelstänzerei, die in einem ganz originellen Costüm zu veranschaulichen suchte, auf welche Art und Weise die Singhalesen die vom Teufel Besessenen d. h. ihre Kranken zu kuriren wissen. [Kurier für Niederbayern, Jg. 38, Nr. 115, 28.4.1885, S. (1f.)], nicht besucht hatte. Jetzt ist ein
ganzes JapanesendorfWedekind bezieht sich auf die ‚japanesische Ausstellung‘ im Münchner Glaspalast, die am 29.8.1885 eröffnet worden war und mit der Versteigerung einzelner Ausstellungsstücke am 14.10.1885 endete. Unter dem Titel „Japan in München“ gab die Presse eine ausführliche Beschreibung der Ausstellung, darunter auch eine des aufgebauten ‚Dorfes‘: „Alle die kleinen Häuschen, die indessen die charakteristische Bauart nur andeutungsweise zeigen, sind mit einer einzigen Ausnahme Werkstätten, auf der Vorderseite ganz offen, so daß wir das Thun und Treiben der fleißigen Arbeiter genau beobachten können. Die Wände dieser einstöckigen Häuschen bestehen aus Holzgittern, mit weißem Papier verklebt, über aus in verschiedenen Mustern zusammengesetzten Bambusstäben. Der Fußboden ist mit Matten belegt, die inneren Wände meist mit bemalten Wandschirmen verstellt. Auch das einzige Wohnhaus, welches wir sahen, ist ganz ähnlich eingerichtet, nur befindet sich darin eine Reihe von flachen Kissen zum Sitzen sowie einzelne Hausgeräthe, beispielsweise die kleinen Oefchen zum Wärmen der Füße; dieses Haus ist auch zweistöckig, ein verandaartiger Aufbau über einer rundumlaufenden, vorspringenden Galerie bildet den zweiten Stock.“ [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 38, Nr. 242, 30.8.1885, S. 1] im hiesigen Glaspalast1854 erbautes Ausstellungsgebäude auf dem Gelände des Alten Botanischen Gartens in der Münchner Innenstadt; 1931 abgebrannt. zu sehen, was ich noch vor meiner
Abreise zu besuchen gedenke. Diese Leute haben zwar nicht denselben herrlichen Gliederbau aufzuweisen, wie ihre südlichen
Nachbarn, aber sie sind doch etwas intelligenter, was eben auch nicht ganz zu
unterschätzen ist.
Von meinem Krankenbett aus weiß ich Ihnen natürlich nicht viel Neues zu
berichten. Ein Tag fließt wie der andere dahin in unabänderlicher Monotonie,
aber mein unverwüstlicher Humor, läßt mich sie alle mit Geduld ertragen.
Ich habe während der Zeit meiner Krankheit aus purer | Langweile zwei Balladenvermutlich die Balladen „Die Venus“ [KSA 1/I, S. 197f. und Kommentar KSA 1/II, S. 1382f.] und „Der Mensch ist ein Chamäleon“ [KSA 1/I, S. 198f. und Kommentar KSA 1/II, S. 1260-1263], von denen Reinschriften vorliegen, die während Wedekinds Lenzburger Aufenthalts nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus entstanden.,
zwei Novellenvermutlich die Fragment gebliebenen Novellen „Der Kuß“ [KSA 5/I, S. 314-319 und Kommentar KSA 5/I, S. 450-462] und „Trudi“ [KSA 5/I, S. 320-326 und Kommentar KSA 5/I, S. 784-796]. und ein Trauerspielnicht überliefert. b/z/u schreiben begonnen, aber ohne
natürlich etwas zu vollenden.
Daneben etstandenSchreibversehen, statt: entstanden. allerdings als Kinder meiner schlafberaubten Nächte mehrere
Gedichte an SieAus dieser Zeit stammt nur das Gedicht „Wiedersehn“ (später unter dem Titel: „An Madame de Warens“), das in einer auf den 21.10.1885 datierten Reinschrift überliefert ist [vgl. KSA 1/I, S. 195f. und Kommentar S. 986-990]. , liebe Tante, die ich mir die Freiheit nehmen werde, Ihnen in
Lenzburg zum Urtheil über Leben und Tod zu unterbreitenBertha Jahn notierte im Anschluss daran (um 90 Grad gedreht) am rechten Seitenrand: „Was ist daran wahr u. was geschwindelt?“ .
––– Mir vis
à vis im Krankensaal liegSchreibversehen, statt: liegt.
ein Studiosus MedicinäDer Medizinstudent und sein Vater sind nicht identifiziert. von vierundzwanzig Semestern. Er zählt 32 Jahre, sieht
aber aus wie ein guter Fünfziger. Außer an einer zerfressenen Lunge und an einem Herzfehler leidet er
noch an Gelbsucht und Wassersucht. Seit 8 Tagen wartet man schon vergebens auf
sein seliges Hinscheiden, denn er ist ein verlorenes Opfer des Münchner Bieres.
Gestern besuchte ihn sein alter Vater aus der Rheinpfl/a/lz. Er wußte
genau wie alles stand und d mit rothverweinten Augen tröstete er seinen
Sohn
lächelnd, es werde jaAufgrund des abgerissenen unteren Seitenrandes ging Text von mindestens einer Zeile verloren; zu ergänzen wäre etwa: alles gut gehen, er solle. [Textverlust] |
nur dem lieben Gott vertrauen. Ein junges hübsches Mädchennicht identifiziert. aus München hatte
den Alten hergeleitet; Und während er mit seinem verlorenen Sohne sprach,
übernahm ich es, seine Begleiterin zu unterhalten. Ich setzte mich zu ihr aufs
Fenstersimms und wir sprachen von allerlei, was die Menschen interssirtSchreibversehen, statt: interessirt. und
zugleich belustigt. Nachher hatte ich wieder Fieber und mußte früh zu Bett
gehn.Bertha Jahn notierte dazu am rechten Seitenrand (um 90 Grad gedreht): „Das ist wahr, ganz Franklin!“
––– Und jetzt leben Sie recht wohl, liebe Tante. Meine
Empfehlungen an
Fräulein Lisa und undSchreibversehen (Wortwiederholung), statt: und. viele Grüße an Hanni und Ernst vor Allem auch an Victor,
wenn er von aus seinem SemesterBertha Jahns Sohn Victor studierte seit Frühjahr 1885 Theologie in Genf. schon zu Hause
bei der lieben Mutter ist. Ich aber bleibe in kindlicher Ergebung und Liebe Ihr treuer Neffe FranklinAm Fuß der Seite notierte Bertha Jahn: „Wo bleibt der Herzenston? Das ist der erste Brief seit März, freilich die“; durch den abgerissenen unteren Seitenrand ging weiterer Text von mindestens einer Zeile verloren. Ähnlich monierte Bertha Jahn gegenüber Wedekinds Mutter, die sie mit Zitaten aus dem vorliegenden Brief über den Krankheitsverlauf Frank Wedekinds beruhigte: „Franklin hat geschrieben, ich darf mit Bestimmtheit annehmen, daß Sie ihn dazu aufgefordert, der Brief ist nicht dem Bedürfniß sich mit mir zu unterhalten, entsprungen, sondern der Convenienz, das merkt man ihm an.“ [Vgl. Bertha Jahn an Emilie Wedekind, 6.9.1885, Mü, Nachlass Frank Wedekind, FW B 191].