München, December 85.
Liebe Tante,
Empfangen Sie meinen besten Dank für
Ihre freundlichen, liebevollen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 15.11.1885. die so viel Interessantes für mich
enthielten. Allerdings stand auch unerwartet viel Trauriges darin, das Sie
selbst und Ihre verehrte Fräulein Tochter mit Schmerzen und Sorgen jählings
heimsuchte. – Arme Lisa! So schwer mußten Sie die ärmliche unschuldige
Fröhlichkeit büßen,
der Sie mit arglosem Sinne Ihre jugendlich zarte Natur überließen. – O hätt’
ich doch in den heftigen Glut Stürmen des Fiebers an Ihrem Lager stehen,
Ihren ruhlosen Schlummer bewachen, Ihrem Athem lauschen und mit dem bangem
Ohr dem wilden Flug Ihrer | entfesselten Pulse folgen dürfen. Aber freilich
weiß ich das Schicksal zu segnen, das mich, derweil Sie litten, fern von Ihnen
in ohnmächtige Unkenntniß bannte und mich nicht einmal ahnen ließ, an welchem
Abgrunde voll Graun und Verderben Sie indeß in sinnlosen Phantasien
umherirrten. Denn Ihre liebe treue Mutter stand gewiß als bessere Pflegerin an
Ihrem Krankenbett; verband sie doch mit reinerer höherer Liebe besonnenere Geduld
und eine kluge Erfahrung, so daß sie nach langer Sorg’ und Angst ihre schöne
Tochter sich auch endlich wieder erheben und ihr mit dem milden Gli Schimmer
der erwachenden
Gesundheit auf den bleichen Zügen entgegenlächeln sah.
Soweit hatt’ ich schon vor vier Wochen diesen Brief begonnen,
als mich die unerwartete Nachricht von dem plötzlichen Tode AngelicasVon Wedekind erfundene Geliebte, mit der er das bestehende Verhältnis zu seiner ‚erotischen Tante‘ Bertha Jahn mithilfe dieses „fingierten Distanzierungs- und Täuschungsversuchs“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 120] aus der Ferne zu beenden suchte. Er widmete Angelika sogar Gedichte [vgl. KSA 1/I, S. 203f. und 1011f.]. In Wedekinds Finte waren auch einige Freunde und Familienmitglieder eingeweiht [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 1.2.1886]. j aufs
Schrecklichste in meinen Gedanken | unterbrach. Seit jenem Tage drangen die
verschiedensten Gefühle auf mich ein; ich habe in kurzer Zeit viel Trauriges
und viel Interessantes gesehen und miterlebt, und Sie werden mir daher
verzeihen wenn ich jetzt erst, allerdings nur
kurz vor Abschluß der JahresrechnungWedekind hatte den unterbrochenen Brief Ende Dezember wiederaufgenommen und „ihn für Neujahr bestimmt“ [Wedekind an Bertha Jahn, 4.3.1886], stattdessen aber eine Karte geschrieben., darandenke, mich vor Ihnen, die Sie zwar allerdings wohl
Veranlassung hatten, mir meines unhöflichen Schweigens halber zu zürnen,
bestmöglichst zu entschuldigen.
Erlassen Sie es mir, Ihnen ins Einzelne den Eindruck zu
schildern, den die kurzgefaßte Hiobspost auf mich hervorbrachte. Ich konnte die
Wirklichkeit natürlich im ersten Augenblick gar nicht fassen, geschweige denn
glauben. Sollte denn d/e/in Wesen, das ich noch kurz zuvor in der
herrlichsten Blüthe seiner Jugend, im Übermaß von Fröhlichkeit und glühender
Lebenslust an meiner Seite gesehen – sollte dieser Himmel von Lieblichkeit,
Geist und tiefem Gemüth wirklich so ohne Weiteres, im ruhigsten Lauf der Zeiten
zusammen brechen, zerstört werden können? – | Und mit einem Male füllte ihr
liebendes Wesen wieder die ganze Tiefe und Weite meines Daseins aus; ich kam
mir vor wie ein Bettler, hatte nichts mehr als das Gefühl, daß ich bin, daß ich
elend bin und daß mir alles fehle, was den Me mich glücklich machen
könnte. Freilich hatt’
ich sie eine Zeit lang vergessen, hatte schnödermaßen meine Liebe geläugnet und
in meinem letzten Briefe an Sievgl. Wedekind an Bertha Jahn, 9.11.1885. selbst meinem klein elenden Spott keinen
Einhalt geboten. Jetzt erschien ich mir entsetzlich klein, furchtbar
erbärmlich, verwerflich. Wäre das alles nicht gewesen, o, ich hätte schreien
und weinen können, die Welt verfluchen, verachten, und meinen Schmerz in wilden
Klagen ertränken. Aber so? – Ich war ohnmächtig, wie vom Blitz getroffen,
gelähmt, verstummt, zerrissen.
Woran mochte das geliebte Kind gestorben sein? – In der
Anzeige stand von einer | kurzen, schmerzlosen Krankheit; aber wie sollt ich
mir das deuten? w/W/ie kam ich überhaupt zu einer Todesanzeige? – Meine
letzten Briefe waren ja sämmtlich unerwidert geblieben; ich wähnte mich längst
vergessen oder durch angenähmere Verhältnisse ersetzt. – Arme Angelika, ich sah
es zu spät ein, daß ich dich trotz aller Liebe doch niemals zu schätzen gewußt
hatte.
Eine schlafberaubte Nacht reifte wenigstens einen Entschluß
in mir, zu dem meine kleine Baarschaft gerade noch ausg/r/eichen mochte.
Ich mußte sie noch einmal sehen, in ihren ruhigen bleichen Zügen, dem matten
Spiegel der entflohenen Seele wollt’ ich Vergebung meiner Sünden lesen und,
wenn irgend möglich, meine Ruhe wiederfinden. Früh Morgens des folgenden Tages
saß ich schwarz gekleidet mit einem gepumpten Cylinderhut im CoupéeCoupé (frz.) Eisenbahnabteil., und die Mühdigkeit,
die mich bald darauf übermannte, gab mich erst, als wir in Linz hielten, meinen
traurigen Betrach|tungen wieder zurück.
Nachdem ich auf dem Bahnhofe in Passau meine Toilette ein
wenig restaurirt hatte sucht ich unter vielen Erkundigungen nach w/W/eg
und Richtung sofort das Haus auf, darin sie gelebt hatte und gestorben war und nun ihrer baldigen
Beerdigung entgegenharrte. Es liegt außerhalb der Stadt in einem großen Garten
den eine hohe Mauer von der Straße trennt; es schien mir schon ziemlich alt zu
sein und seine Bauart versetzte mich in die Zeit unserer großen Dichter,
obschon ich gar nicht dazu disponirt war, mich angenehmen Träumen zu hint/üb/erlassen.
In einem vornehm eingerichteten Salon, dessen lauschige
Dämmerung mich doch einige Abgüsse von Antiken in den Ecken und an den Wänden
italiänische Landschaften erkennen ließ, öffnete sich bald da nach
meinem Eintreten eine | Tapetenthür, die ich zuvor nicht bemerkt hatte, und
heraus trat ein schöner alter Herr in weißem Haar mit dem tiefen Eindruck
schmerzlicher Trauer in den edlen Zügen. Nachdem er mich bei meinem Namen, den
ihm meine Karte gemeldet, eher kalt als herzlich bewillkommt und wir beide
Platz genommen hatten sagt’ ich eine wohl einstudirte und bis auf jede
Einzelheit berechnete CondolationBeileidsbekundung. her und die unsichere, mühsame Art, mit der
ich sie vorbrachte, verfehlte keineswegs ihre Absicht. Darauf erzählt ich kurz
und bescheiden wie mir die Gunst der Bekanntschaft Angelicas zu Theil geworden
und als ich eine Thräne in den Augen des Vaters blinken sah, hob ich möglichst
unbemerkt mein Taschentuch, um mir selber die Wimpern zu trocknen. Nun erfuhr
ich auch, worauf ich so sehr gespannt war, daß das Mädchen nämlich schon
letzten Herbst in München gekränkelt habe; es sei ihr offenbar das Klima zu
rauh und wechselvoll gewesen. Er habe | sie deshalb nach Hause gerufen, wo sie
in kurzer Zeit auch wieder vollständig genesen sei. Vor vier Tagen aber,
nachdem sie zum ersten Mal auf dem Eise gewesen, habe sich ihrer eine
Lungenentzündung bemächtigt, die sie aufs Krankenlager geworfen und mit
gräßlicher Schnelligkeit
dem Tod in die Arme gejagt habe.
So erzählte der alte Herr. Ich war in der That furchbarSchreibversehen, statt: furchtbar.
ergriffen aber behielt dennoch so weit meinen Zweck, das Mädchen noch
einmal zu sehen, so scharf im Auge, daß ich ihn den Eindruck jedes seiner Worte
aufs Lebhafteste in meinen bewegten Zügen lesen ließ. Hiedurch besonders hatt’
ich auch bald sein vollständiges Vertrauen erworben und nun erst eröffnete er
mir, daß ihm seine Tochter in den letzten Tagen, da er öfters allein an ihrem
Bette gewacht, viel Gutes von mir erzählt habe. Sie habe die Zeit ihres Umgangs
mit mir ihr höchstes Glück, mich | selber aber die Sonne ihres Lebens genannt
und habe ihn in ihren letzten Zügen noch gebeten, mich nicht im Ungewissen über
ihr trauriges Schicksal zu lassen, da der Gedanke an mich und meine Liebe ihr
doch Trost und Stärke in ihrem Unglück biete. Es ist das Vermächtniß einer Todten,
liebe Tante, das ich Ihnen wohl entdecken darf ohne dadurch den Schein von
Selbstlob und Überhebung auf mich zu laden. Als ich in Thränen aufgelöst dem
Alten für diese Nachricht dankte, erhob er sich aus seinem Lehnstuhl und,
nachdem ich ihm gefolgt, drückte er mir warm und herzlich die Hände „Gott im
Himmel möge Sie segnen,/!/[“] sprach er mit fast erstickter, feierlicher
Stimme „Auch Ihnen ist das holde Kind entrissen; Sie fühlen meinen Schmerz und
begreifen mich. Zwar wird die Wunde in Ihrem jungen Herzen sich eher schließen
als in dem Meinen, dem sie sein Alles war; aber lassen Sie uns beide ihrer in
Liebe und Verehrung gedenken. Sie vermögen es | gewiß nicht zu fassen, welche
Erleichterung mir das traurige Bewußtsein verschaftSchreibversehen, statt: verschafft., nicht einzig und allein so
verlassen und elend in der Welt zu stehen; all/b/er lassen Sie uns
vereint an ihrem Sarge knien, dort wird sich Ihnen erst mein ganzer Jammer
zeigen.“
Meine Brust hob und senkte sich hörbar, als wir nun einen langen, weiten,
spärlich erleuchteten Gang hinschritten, dem Todtengemach entgegen. Mir war’s
als müßten die schweren Wände mich erdrücken, die Decke auf mich niederstürzen
und als träten die Bi/Ah/nenbilder aus ihren alten verrosteten Rahmen heraus.
Einem Verbrecher konnte nicht anders zu Muthe sein, der zum Richtplatz geführt
wird aber doch von Jenseits her die Freuden des Himmels winken sieht.
Die Thüre ging auf und da lag sie weiß gekleidet, auf hohem weißem
Lager, umgeben von Blumen und Kränzen, die einen schweren betäubenden Duft
durch das G/g/anze Gemach verbreiteten. Aber sofort verwandelte sich
meine tiefe Rührung in entsetzliches, herzzerreißendes Grausen, als ich der Todtenhier hat Wedekind den Brief abgebrochen; das Brieffragment legte er später einem Brief an Bertha Jahn bei [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 4.3.1886].