Kennung: 5829

München, 4. März 1886 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Jahn, Bertha

Inhalt

München 4.III.86.


Liebe Tante,

Daß ich Ihnen erst jetzt auf Ihren lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Wedekind, 15.1.1886. antworte, kommt daher, weil ich sehr gerne gleich der/ie/ Photographie beigelegt hätte. Als ich aber gesternam 3.3.1886. beim Photographen Wedekind dürfte das Fotoatelier von Franz Xaver Ostermayr (Schillerstraße 4, Parterre) [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil I, S. 368; Teil IV, S. 137] beauftragt haben, das gleiche wie seinerzeit für das gemeinsame Foto mit Walther Oschwald und Armin Wedekind [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1884].war, bat er mich noch acht Tage zu warten: er hatte vergessen sich meinen Namen zu merken und infolge dessen das Negativ nicht finden können. Frl. Lisadie 19jährige Tochter Bertha Jahns, der Wedekind offenbar eine Foto für ihr Foto- oder Poesiealbum zugesagt hatte. möcht’ ich daher bitten, mein langes Säumen gütigst entschuldigen zu wollen und sich noch wenige | Tage zu gedulden. Im übrigen kann ich Frl. Lisa die Versicherung geben, daß ich sehr wol die hohe Ehre zu schätzen weiß, die mir durch den/as/ Plätzchen, das lauschige, traute, in ihrem Album zu Theil wird. ––

Hoffentlich sind nun auch die schweren trüben Kummerwolken verflogen unter deren Druck Sie in Ihrem letzten Briefe meiner gedachten. Freilich müssen das herbe Zeiten für Sie gewesen sein aber nun naht ja schon wieder der neue Frühling und lockt selbst aus Gräbern frische Blumen hervor. So werden in Ihrem Herzen die schönen Erinnerungen neu aufleben und in deren Genuß werden Sie selber in Ihrem | heiteren Gemüth der Welt so wenig mehr zürnen können, weil sie kein Paradies ist, als auch den Menschen, weil sie nicht ganze Engel sind. Oder sollten Sie die Menschen jemals verabscheuen können, Sie, die dieselben soheiß geliebt und ein ganzes Leben darangesetzt, ihnen Gutes zu thun? Der Undank freilich ist eine herbe Pille, aber doch nicht für die Mutter, die ihr Kind pflegtLisa Jahn war im November 1885 erkrankt und wurde von ihrer Mutter gepflegt [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 2. bis 30.12.1885].. Und die Welt ist eben ein Kind und auch die Menschen werden ewig Kinder bleiben. Wie das Kind den Apfel, so nehmen sie Wohlthaten als glückliche Zufälle hin, die man schleunig ergreifen muß, da sie etwas außergewöhnliches sind. Fühlen sie dann gerade das Bedürfniß dazu, so danken sie vielleicht auch dem Geber, oder | auch dem lieben Gott oder dem Zufall, oder gar der eigenen Schlauheit – wem, das ist ja auch ganz egal. Denn ein Entgelt für den Geber kann ja dieser Dank doch nicht sein, da sie ihn im besten Fall nur zollen, um das eigene Herz dadurch zu erleichtern.

Mich, liebe Tante, werden Sie nun wol zu den Undankbarsten aus Ihrer Umgebung rechnen und das gewiß nicht ganz mit Unrecht. Denn das, was ich Ihnen schulde, werde ich Ihnen ja niemals auch nur annähernd entgelten können. Daß ich aber ein so überaus nachlässiger Correspondent bin, hat damit nichts zu thun, sondern rührt eher davon her daß ich Ihnen viel zu viel als zu | wenig zu schreiben habe. Wie Sie aus beiliegenden Zeilen ersehen, hab ich verschiedene Male angefangen, Ihnen mein Herz gründlich auszuschütten, oder/ohne/ je fertig werden zu können und darum erlaub ich mir jetzt, Ihnen den Brief unvollendet zu schicken, da ich ihn doch nicht mehr fertig schreiben könnte. Als ich ihn zum zweiten Mal wieder aufnahm, hatt ich ihn für Neujahr bestimmt und nur der Umstand, daß mir die Zeit fehlte, ihn zu beschließen, konnte mich dazu bewegen, mich Ihnen gegenüber mit einer CarteDie Bildpostkarte ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1885. zu begnügen, der Carte, über deren Bild und Worte, wie Sie schreiben, Sie nicht sofort klar zu werden vermochten. Meiner unmaßgeblichen Ansicht | nach stellt das Bild ein junges Mädchen dar, was ich, wie Sie, aus den Formen, dann aber auch aus den Blumen schließe. Und zwar ein Mädchen, dessen unerfahrenes Herz noch von der Leidenschaft nicht zu Flammen angefachch/t/ wurde. Der Kopf ist ihr schwer, sie verfällt in dumpfes Brüten und Sinnen und weiß doch selbst nicht worüber. Liebend gerne würde sie die Blumen zum Opfer bringen, die sie im Schoos trägt; aber sie weiß nicht, wohin damit. Unter diesen Verhältnissen leiht sie denn den Einflüsterungen des kleinen Gotteswohl eine Darstellung Amors (bzw. Cupidos) auf der verschollenen Karte. natürlich ein geneigtes Ohr und wartet sehnlichst bis ihr der listige Schelm ihr das Geheimniß aufgedeckt, das Losungswort | verrathen und zugleich die richtige Addresseenglische Schreibweise oder Schreibversehen, statt: Adresse. angegeben hat. – Ich kann mich nicht mehr recht erinnern, mit was für Worten ich mir dies Bild zu begleiten erlaubte; aber seinSchreibversehen, statt: seien. Sie überzeugt, liebe Tante, sie waren aufrichtig gemeint und damals hab ich jedenfalls recht gut gewußt was ich damit hab sagen wollen. Es thut mir leid, daß es mir nicht gelang, meinen Gedanken einen für Alle verständlichen Ausdruck zu geben.

Wie Sie aus beiliegendem Briefe ersehen, ist AngelicaVon Wedekind gegenüber Bertha Jahn erfundene Münchner Geliebte, mit der er das bestehende Verhältnis zu seiner ‚erotischen Tante‘ mithilfe dieses „fingierten Distanzierungs- und Täuschungsversuchs“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 120] aus der Ferne zu beenden suchte. Er widmete Angelika sogar Gedichte [vgl. KSA 1/I, S. 203f. und 1011f.]. kurz nach meiner Ankunft in München gestorben. Ich durfte ihr einen Myrtenkranz in den Sarg legen und sie dicht hinter dem Wagen zur letzten Ruhe geleiten. Nachdem ich noch einen | Tag lang versucht hatte, den verlassenen Vater zu trösten, fuhr ich mit schwerem Herzen und doch um vieles erleichtert nach München zurück. Sagen Sie übrigens meiner Mutter nichts von diesem traurigen Abenteuer. Ich habe es ihr vollständig verhei/e/hlt, da ich nicht gern möchte daß man zu Hause wüßte, daß ich solche Reisen mache. Der Rest des Winters ist ziemlich eintönig für mich hingegangen. Ich habe mich nicht so viel amüsirt, wie Sie voraussetzen und dabei aber doch auch ernstlich gearbeitetan dem Lustspiel „Der Schnellmaler“; seit etwa November 1885 beschäftigte sich Wedekind mit der Konzeption seines ersten Dramas und schrieb es von Ende Januar bis 23.4.1886 (Karfreitag) nieder. Seine Hoffnung, das Stück am Gärtnerplatztheater in München unterzubringen, erfüllte sich nicht [vgl. KSA 2, S. 545 u. 619f.]., wovon ich die Früchte bald einzuheimsen hoffe. Aber auch dies unter uns! Die Carnevalszeit ist nun bald vorüberder Aschermittwoch fiel auf den 10.3.1886. | und ich habe erst einen einzigen Ball mitgemacht, und zwar keinen sehr ausgelassenen. Es war der der schweizer UnterstützungsgesellschaftDer Schweizer Unterstützungsverein hatte in München sein Vereinslokal im Gasthof zu den 3 Löwen (Schillerstraße 45) [vgl. Adreßbuch für München 1886, Teil III, S. 80]. Wann der Faschingsball stattfand, ließ sich nicht ermitteln.. Aber ich bedaure auch meine Enthaltsamkeit gar nicht. Wenn ich mich jetzt nur einigermaßen zusammen nehme, so werde ich die Vergnügungen noch ein ganzes Leben hindurch genießen können. Ich beabsichtige eben nicht, schon mit fünfundzwanzig Jahren ein Philisterstudentensprachlich für: Spießbürger. zu werden. Freilich bin ich kein oberflächlicher Schwärmer mehr. Was Sie mir letzten Sommer schriebennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Bertha Jahn an Frank Wedekind, 14.8.1885., als ich hier im Spital lagWedekind musste seit dem 5.8.1885 mehrere Wochen lang eine Rotlauf-Infektion am Unterschenkel im Krankenhaus links der Isar stationär behandeln lassen [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 12.8.1885]; er wurde am 18.9.1885 entlassen [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 18.9.1885]., s Sie hofften mich als Mann, nicht als grünen Jüngling wiederzusehen, das wird | sich bei unserer nächsten Begegnung sicherlich erfüllen, denn ich fühle es jetzt schon, um wie viel ernster mich die Arbeit und mein gemessenes Leben gemacht haben. Es ist das auch jedenfalls der beste Weg mir die Jugendfrische des Geistes so lang als möglich zu erhalten.

Wenn Sie nächsten Herbst nach München kommen, so würd er/s/ mir nicht nur eine herrliche Freude sondern auch eine große Ehre sein, Sie in den Wundern der Stadt als CiceroneFremdenführer. begleiten zu dürfen. Sie würden sich alsdann auch davon überzeugen, daß ich meine Zeit nicht müssig zugebracht habe. Vorher wird es mir wohl kaum vergönnt sein, | Sie liebe Tante, wiederzusehen. So bitt ich Sie denn noch einmal um Entschuldigung meiner Ungezogenheit und bin und bleibe mit den herzlichsten Grüßen in kindlicher Ergebenheit Ihr dankbarer Neffe Franklin. ––


P. S. Meine herzlichen Empfehlungen auch an Frl. Lisa und an HannchenHanna Jahn, die fast 16jährige Tochter Bertha Jahns.. Es ist heute wol das letzte Mal, daß ich diese nun auch bald zur schönsten Pracht erschlossene Blume so nennen darf. In wenigen Wochen wird sie schon Fräulein Johanna für mich sein. So will ich denn dies Mal noch die alte Vertraulichkeit recht ergiebig | ausnützt/e/n indem ich dem klugen neckischen Schelm mit den tiefdunkeln Augen meine innigsten Segenswünsche zur bevorstehenden Confirmation zurufe. Mögen in dir auch in Zukunft das gr reiche Herz und der helle Verstand sich immer in gleicher harmonischer Weise das Ebenmaß bewahren; möge weder dieser durch allzu weichliches Glück eingeschläfert, noch jenes durch herbes Geschick verbittert werden. So wird auch nimmermehr der reine himmlische Frohsinn dein Gemüth verlassen und deine Lippen werden lächeln können wie düster auch der Himmel über dir donnern mag. Ich aber bleibe in Ewigkeit Dein treuer Freund
Franklin.


[Am oberen rechten Rand von Seite 1 um 90 Grad gedreht:]

Meine Grüße an Herrn Verwalter Müller und Herrn Schrödernicht identifiziert; möglicherweise der Nachfolger Adolf Spilkers in der Löwenapotheke Lenzburg., im Fall er noch in Lenzburg weilt.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 12 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 12,5 x 20 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat die hinteren Doppelblätter mit den Zahlen „II.“ und „III.“ nummeriert (hier nicht wiedergegeben). Auf Seite 1 ist unten rechts mit Bleistift „20“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    4. März 1886 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort


  • Empfangsort


Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
132-136
Briefnummer:
41
Kommentar:
Im Erstdruck ohne die zweite Nachbemerkung ediert.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 197
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Bertha Jahn, 4.3.1886. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (08.04.2025).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

10.03.2025 15:12