München im Mai 86.
Liebe Tante,
warum erhalt ich noch immer kein Lebenszeichen von Ihrer
theuren Hand? Anfangs glaubt ich, daß Sie mich in alter Güte abstrafen wollten
für meine langen Pausen, mit denen ich unsere Correspondenz zu unterbrechen
pflegte. Ich beschloß geduldig auszuharren und nicht zu klagen über das, was ich selbst
verschuldet. – Aber jetzt – Sie wissen nicht, wie vereinsamt ich in der Welt
stehe, wie mich mein stilles Arbeiten ganz aus allen Lebenskreisen heraus gerissen
hat. Sie vermuthen mich vielleicht in einem über|sprudelnden beteubendenveraltete Schreibweise, statt: betäubenden. Lebensgenuß
und die BriefeAus dem Jahr 1886 ist lediglich ein Brief Wedekinds an seine Mutter überliefert [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.5.1886]. Er dankt ihr darin für einen – nicht überlieferten – Brief vom März des Jahres. die ich meiner Mutter schreibe könnten ja auch wol b/B/erechtigung
dazu geben. Aber ich schreibe ihr ja das alles nur darum, weil ich ihr nicht
schreiben darf, was mir
in Wahrheit das Herz bewegt. Ich muß sie ja im süßen Wahne lassen daß ich
Jurisprudenz studire bis ich ihr wenigstens mit einem kleinen Erfolg vor die
Augen treten kann um meine WahlSchriftsteller statt Jurist zu werden; Wedekind war seit dem Wintersemester 1884/85 in München als Jurastudent eingeschrieben. zu rechtfertigen. Da bausch’ ich denn oft
kleine unwichtige Begebenheiten, die spurlos an mir vorübergegangen sind, zu
großen Vergnügungen auf, nur, damit das Papier voll wird und meine Eltern die
Gewißheit haben daß ich noch leben und gesund bin. Von Jurisprudenz kann
ich ja auch nichts schreiben, denn ich weiß nichts davon und meine Eltern so
gründ|lich anlügen, das kann ich auch nicht mehr. Aber Ihnen, liebe Tante, hab
ich ja meine Sünden gebeichtetvgl. Wedekind an Bertha Jahn, 4.3.1886.; Sie wissen, was ich thu und treibenSchreibversehen, statt: treibe. und wie
würde mich ein
einziges inniges Wort von Ihnen anspornen und aufrichten wenn mir, wie das sich
wol giebt, plötzlich der angespannte Humor aus der Hand fällt und ich am
liebsten ein Steineklopfer werden möchte um unbekümmert um Weltruhm und andern
eitlen Plunder nur meinen stillen Träumen leben zu können.
Letzten Herbst ging ich mein jetziges Treiben ein mit dem
festen Vorsatz Leben und Lebensgenuß zu fliehen, bis ich durch meine eigenen
Thaten mitten ins Leben hineingestellt worden sei; und diesem Vorsatz bin ich
bis jetzt unerbittlich treu geblieben. Ich habe indessen | manche angefangene
Arbeitvermutlich die beiden im Sommer 1885 begonnenen, nicht namentlich genannten Novellenfragmente [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 2.5.1886] „Der Kuss“ [KSA 5/I, S. 314-319; zu den Fassungen S. 451-461] und „Trudi“ [KSA 5/I, S. 320-326; zu den Fassungen S. 786-795]. Bertha Jahn berichtete er im Herbst 1885 über „zwei Balladen, zwei Novellen und ein Trauerspiel“ [Wedekind an Bertha Jahn, 5.9.1885], die er abgebrochen habe. zur Seite gelegt, aber am letzten Charfreitagden 23.4.1886. konnt ich endlich das heißersehnte
Finis(lat.) Ende. unter etwasWedekind hatte die erste Fassung seines Lustspiels „Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon. Große tragikomische Originalcharakterposse in drei Aufzügen“ (1889) abgeschlossen und hoffte auf eine Aufführung in München [vgl. KSA 2, S. 545]. schreiben, das mich drei Monate lang Tag und Nacht in
Anspruch genommen hatte. Ich hoffen nichts weiter davon als dasSchreibversehen, statt: als dass. es mir
den Weg auf die Bühne BahnenSchreibversehen, statt: bahnen. soll aber es geht so schrecklich lang bis ein
treuer Freund zwei Stunden finden/t/, um et/da/s zu lesen, worauf
ein anderer die Entscheidung seines Lebens setzt, und eine Empfehlung dazu zu
schreiben. Aber ich bin dadurch ans Arbeiten gewöhnt worden und habe schon
wieder ganz etwas anderesvermutlich die 1886 entstandene Novelle „Fanny“ [KSA 5/I, S. 14-19 und S. 594f.].
in die Hand genommen, worauf ich all meine Kraft und meinen ganzen Ernst concentriren
muß. Wenn ich des Abends bis halb Elf oder Elf Uhr gesonnen, gesponnen und
geschrieben habe, so geh ich oft noch auf die | Kneipe und treffe dort eine
Anzahl gereifter Männer die mich sämmtlicheSchreibversehen, statt: sämmtlich. freundlich willkommen heißen. Sie
haben den größten Theil des Lebens schon hinter sich und meistentheils daraus nur ein
theures aber auch treues Gut gerettet, nämlich den Humor. In ihrer Mitte fühl
ich mich meistens sehr wohl, während ich mich in Gesellschaft von jungen Leuten
fast immer langweile, und das gewiß unwillkührlich, denn ich empfind es doch
zuweilen mit heimlichem Grauen, wie alt ich geworden bin.
Jetzt liebe Tante kennen Sie mich und mein Leben und mögen
urtheilen, ob ich noch Ihrer Freundschaft und Liebe werth bin, wie damals als
ich Ihnen nichts zu geben hatte als ein leichtes Herz und einen uns/d/isciplinire/t/en
Verstand. Jetzt bin ich freilich etwas schwerfälliger geworden; | das fühl ich
mit jedem Tag. Aber fürchten Sie nichts; Wenn es nur g/so/ geht wie ich
es mir vorgesetzt, so werd ich mir die verlorenen Güter der Jugend bald genug
wieder erkämpft haben.
An Lisa hab ich vor geraumer Zeit einige ZeilenSchreibversehen, statt: sämmtlich. geschrieben.
Ich weiß nicht ob ich sie darin beleidigt habe. Wenn es wirklich der Fall ist,
so kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß nichts weniger als das in meiner
Absicht lag. Vielleicht zürnt sie mir auch noch von früher her und dazu mag sie
ja auch alles Recht haben. Im Fall sie mir aber all meine Sünden in globo(lat.) im Ganzen. verziehen hat, so sind Sie, liebe Tante, vielleicht so
barmherzig, dem Pilger in der Wüste diesen Labetrunk zu überreichen. | Der
aufblühende Frühling ist mir sehr erquickend und doch mischt sich auch in diese
Freude leise Wehmuth, wenn ich daran denke um wie viel herrlicher er sich in
der Heimath
entfaltet. Dazu kommt noch daß mir das Pflaster von München überhaupt verleidet
ist; aber ich hatte mir vorgenommen, hier auszuharren, bis ich was rechtes zu Stande
gebracht hätte. O wie erleichtert will ich dann in die Welt hinaus
wandern.
Sie haben am KrankenbetteWedekind nannte als Erkrankung des Vaters „das hartnäckige beängstigende Halsübel“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.5.1886]. meines Vaters gesessen und ihm Heilung
und Ruhe gebracht. Meinen innigsten Dank dafür, geliebte Freundin. Er nennt SieHinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 27.4.1886.
seinen rettenden Engel; wie werd’ ich Ihnen das je vergelten können. – |
Wenn ich Sie darum bitten darft, so sagen Sie meiner
Mutter nichts von diesem Brief. Sie würde zwar wahrscheinlich auch nicht alle
Hoffnung verlieren, wenn sie mis
mich schon keinSchreibversehen, statt: keinen. Jurist
werden sieht. Aber ich möchte ihr gern ersparen, daß sie vor meinem Vater ein
solches Geheimniß bewahren müßte.
Und nun leben Sie wohl, liebe Freundin! Üben Sie Gnade mit
dem reuigen Ketzer und schicken s/S/ie ihm ein Lebenszeichen, wär es
auch nur ein grünes Blatt aus Ihrer Hand das er in freudiger Erinnerung ans
Herz drücken könnte.
Grüßen Sie Ihre lieben Kinder von mir. Ich bin und bleibe Ihr treu ergebener
Neffe
Franklin.