Beersheba
Springs 20 Februar 1889.
Mein lieber Franklin!
Deine FeuilletonsDas waren aus dem Jahr 1887 erstens „Der Witz und seine Sippe. Betrachtungen“ [KSA 5/II, S. 82-93], erschienen vom 4. bis 6.5.1887 [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 123, 4.5.1887, 2. Blatt, S. (1-2), Nr. 124, 5.5.1887, 2. Blatt, S. (1-2), Nr. 125, 6.5.1887, 2. Blatt, S. (1-2)], zweitens „Zirkusgedanken“ [KSA 5/II, S. 94-106], erschienen am 29. und 30.7.1887 [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 209, 29.7.1887, 1. Blatt, S. (1-2); 2. Blatt, S. (1-2); Nr. 210, 30.7.1887, S. (1-2); vgl. auch KSA 5/III, S. 901] und drittens die Charakterskizze „Gährung“ [KSA 5/I, S. 21-36], erschienen vom 13. bis 18.10.1887 [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 67, Nr. 285, 13.10.1887, 1. Blatt, S. (1-2); Nr. 286, 14.10.1887, 1. Blatt, S. (1-2), Nr. 287, 15.10.1887, S. (1-2), Nr. 290, 18.10.1887, 1. Blatt, S. (1-2)]. Daneben könnte Wedekind seinen 1888 in 2 Teilen am 2.8.1888 u. 5.8.1888 abgedruckten Beitrag „Im Zirkus“ [KSA 5/II, S. 108-110] und „Im Zirkus II. Das hängende Drahtseil“ [KSA 5/II, S. 111-114] mitgesandt haben [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 68, Beilage zu Nr. 215, 2.8.1888, S. (5); Beilage zu Nr. 218, 5.8.1888, S. (5)]. sowie auch Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Olga Plümacher, 1.2.1889. v. 1 d. Ms. habe ich erhalten und danke ich Dir sehr für Dein rasches EntgegenkommenOlga Plümacher hatte Ende 1888 um die Zusendung gebeten [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 28.12.1888].. Zu
diesen Feuilletons
kann man Dir gratuliren; sie sind eben so geistvoll wie liebenswürdig und
gefällig. Die stehen nicht nur ein gutes Theil höher als das normale anständige
Feuilleton einer anständigen Zeitung, sondern auch ha/o/ch über Deinen Arbeitenvermutlich die 1885/86 entstandenen Novellen „Der Kuss“, „Trudi“ und „Fanny“ [vgl. KSA 5/1, S. 14-19 und S. 314-326 sowie Kommentar S. 450-462, S. 594-599, und S. 784-796], die zu Romanen auszuarten drohten, wie Wedekind in einem nicht überlieferten Brief schrieb und worüber Olga Plümacher in ihrer Antwort Stellung nahm [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 2.5.1886]; außerdem wahrscheinlich auch die erste Fassung von Wedekinds tragisch-komischer Posse „Der Schnellmaler“, beendet am 23.4.1886 [vgl. KSA 2, S. 545]., die Du mir vor 3
Jahrenvor Olga Plümachers Abreise im Herbst 1886 zu ihrem Ehemann nach Venezuela; von dort kehrte sie 1888 zurück nach Beersheba Springs. mittheiltest. Du hast die Form beherrschen gelernt und haushalten mit
den Gedanken. | Beides giebt sich nur durch Uebung: im Anfang möchte man immer
gleich alles was einem Kopf und Herz bewegt in ein Opus hineinpacken und so
wird das selbe formlos – statt eines prunkvollen Gemaches wird’s eine
Rumpelkammer, wo ein Prunkstück dem andern vor dem Lichte steht. Meine zwei erstenVon Olga Plümacher wurden 1879 die Aufsätze „PESSIMISM“, unterschrieben mit „O. Plumacher“ [in: Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy, Jg. 4, Nr. 13, Jan. 1879, S. 68–89] und anonym „Die Philosophie des Unbewußten und ihre Gegner“ [in: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart, Jg. 15, 1879, 1. Hälfte, S. 321–346] publiziert. gedruckten Arbeiten waren die eine
doppelt, die andere dreifach so umfangreich in der ersten Faßung, bis sie dann
endlich zurechtgestutzt und die zu langen Brühen, in denen die Gedanken servirt
waren, abgedampft wurden. Ich bin sehr gespannt auf Deinen „Schnellmaler“Die Erstausgabe von „Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon. Große tragikomische Originalcharakterposse in drei Aufzügen“ erschien im Frühjahr 1889 bei J. Schabelitz in Zürich. Das früheste datierte Widmungsexemplar ist als Abschrift überliefert [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 7.4.1889].; wenn er in seinem Gebiet den „Cirkus-Gedanken“ gleichwertig
ist, so wird ihm der Erfolg nicht fehlen; | und selbst wenn ihm der BühnenerfolgDer „Schnellmaler“ wurde erst 1916 uraufgeführt [vgl. KSA 2, S. 618-627]. ausbleiben
sollte, so wäre darin noch kein Grund zur Entmuthigung für Dich als
Schriftsteller. Kennst Du A. Fitger’s
TragödienDer Bühnenerfolg der Trauerspiele „Von Gottes Gnaden“ – 1883 im Erstdruck und 1895 in 3. Auflage erschienen – sowie „Die Hexe“ – 1876 im Erstdruck und 1896 in 6. Auflage erschienen – des Bremer Malers, Dichters und Dramatikers Arthur Fitger litt unter den Zensurbeschränkungen. „Von Fitgers Dramen hat auf der Bühne nur ‚Die Hexe‘ einen Erfolg gehabt, und sie mußte diesen durch den Verzicht auf eine der wirksamsten Scenen, mindestens aber durch Milderung derselben erkaufen. Denn die Theatercensur gestattet das von Fitger vorgeschrieben Zerreißen des Bibelbuches nicht [...] ‚Von Gottes Gnaden‘ würde vielleicht eine noch mächtigere Bühnenwirkung erzielen, als ‚Die Hexe‘. Aber hier ist die Aufführung noch weniger zu erwarten. Die geschilderten Verhältnisse und die Art, in welcher sie geschildert werden, würden gewisse Kreise bitter verletzen, und gerade diese Kreise haben die Macht, die Aufführung zu verhindern.“ [Raphael Löwenfeld: A. Fitger und seine Dichtungen, in: Nord und Süd. Bd. 35. Oktober, November, Dezember 1885, S. 348] „von Gottes
Gnaden“ u. „die Hexe“? Ich finde sie prachtvoll, ästhetisch hoch über allem was
Ibsen geschrieben
stehend und doch, trotz der packenden Gewalt dieser Stücke hätten sie auf der
Bühne nur „Anstands-Erfolge“ erlebt – so schreibt mir Hartmannder Philosoph Eduard von Hartmann, mit dem Olga Plümacher seit wenigstens einem Jahrzehnt persönlich bekannt war; die Korrespondenz ist nicht ermittelt.. Was Du über den „jüngstdeutschen“ „Realismusvon Michael Georg Conrad geprägter Begriff; die von ihm begründete Zeitschrift „Die Gesellschaft“ galt als „Hauptorgan des ‚jüngstdeutschen‘ Realismus“ [Brockhaus‘ Konversations-Lexikon, 14. Auflage, Bd. 4, München 1894, S. 480]. Die Bezeichnung war umstritten: „Wenn man doch nur wüßte, was man eigentlich darunter zu verstehen hat! Da flattern Worte wie Real-Idealismus, berechtigter, unberechtigter, sympathischer und unsympathischer, künstlerischer und unkünstlerischer Realismus in der allgemeinen Debatte umher. Was soll man mit alledem anfangen? Buntschillernd eine theoretische Seifenblase nach der anderen!“ [Johannes Schlaf: Realistische Romane? In: Freie Bühne für modernes Leben, Jg. 1, H. 3, 18.2.1890, S. 68] Dem jüngstdeutschen Realismus wurden von seinen Kritikern „die deutschen Nachbeter der skandinavischen Bühnennaturalisten“ und die „Zolaisten deutscher Zunge“ [Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes, Jg. 59, Nr. 17, 26.4.1890, S. 264] zugerechnet.“ sagst ist
vorzüglich und sehr geistreich gesagt – „die Hungerkur“ ist sehr schön gesagt,
das werde ich Hartmann berichten. Von Ibsen kenne ich „Nora“ (zuerst durch Dich damit bekannt
gemacht) „Stützen
d. Gesellschaft“; „Rosmersholm“, | R „Brand“, „Gespenster“ u „Die Wildente“; „Peter Gynt“ ist
mit andern Neuigkeiten auf dem Wege zu mir. (Hartmann ist nämlich mein
Bibliothekar: was mir von jedes Jahr von G. Weiß
als meine Hälfte des Reinertragsder mit ihrem Verleger Georg Weiß in Heidelberg vertraglich vereinbarte Anteil am Verkauf von Olga Plümachers Buch „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart (1884), von dem 1888 eine zweite Auflage erschienen war.
des „Pess.“ zukömmt, geht an
H., der mir
dafür allerlei Neuigkeiten kauft u. sendet; dazu sendet er mir aber immer noch
allerlei, was er entweder auch gratis bekommen hat oder gekauft hat, aber nicht
zu behalten wünscht. So gehts weit mit
dem Gelde – alle paar
Wochen erhalte ich eine Sendung.) Von Doctojewskyder russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski. kenne ich gar nichts; auch
nichts von Max KretzerDer Schriftsteller Max Kretzer, „der oft der deutsche Zola genannt wird“ [Hans Merian: Die sogenannten „Jungdeutschen“ in unserer zeitgenössischen Literatur. Leipzig 1888, S. 27], galt als „der Schöpfer des wirklich realistischen Berliner Romans.“ [Brümmer 1913, Bd. 4, S. 111]. Von Bijörnsonder norwegische Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Bjørnstjerne Bjørnson, dessen Roman „Thomas Rendalen“ Wedekinds Kindertragödie „Frühlings Erwachen“ beeinflusste [vgl. KSA 2, S. 804]. manches, aber „Thomas Ra/e/ndalen“
nicht. An Ibsen bewundere ich die „Mache“, die photographische | Treue mit der
er seine Figuren zeichnet; trotz der Wahrheit im Einzelnen sind seine Stücke doch keine wahren Bilder
des modernen Lebens als solchem, wofür sie übereilte Ibsen-Schwärmer
nehmen. Sie sind nur das photographische Bild des kranken Gliedes am
Gesellschaftsorganismus des Mittelstandes. Es ist freilich schlimm, wenn ein
Glied so erkrankt ist, aber deshalb braucht der Organismus im Ganzen doch noch
nicht als hoffnungslos aufgegeben zu werden. Charakterlosigkeit und
Verlogenheit sind allerdings eine Thatsache; aber Thatkraft und werkthätige
Menschenliebe, Wahrheitssinn und Herzensreinheit sind auch noch Thatsachen und
es giebt | auch noch Idealisten, die dabei nicht Narren sind, wie Gregor WerleGreger Werle, der Protagonist in Ibsens Schauspiel „Die Wildente“ (1884). oder Schwächlinge wie RosmerJohannes Rosmer, ehemaliger Pfarrer und Besitzer von Rosmersholm, dem Gut in Henrik Ibsens Schauspiel „Schloss Rosmersholm“ (1886). oder verworrene
Fanatiker wie Brandein junger Vikar, der Antiheld in Ibsens gleichnamigem Drama „Brand“ (1879), wird von einer durch ihn ausgelösten Lawine verschüttet, nachdem er alleine in die Berge gegangen war.,
dem’s Recht geschieht, daß seine Gemeinde ihn im Schnee sitzen läßt, da er doch
nicht weiß wohin er sie führen will, weder im Geist noch im Leib. Ibsen ist Nihilist; er ist absolut
negativ. Er weiß „alles was bestehtZitat aus Johann Wolfgang Goethes „Faust“; Mephistopheles zu Faust: „denn alles was entsteht / Ist werth daß es zu Grunde geht“ [Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Tübingen 1808, S. 86]. (– nämlich in der Gesellschaft wie sie sich
in seinem Kopfe spiegelt –) ist werth daß es zu Grunde geht“
aber – und das ist eben das CharakteristikonSchreibversehen, statt: Charakteristikum.
des Nihilismus – er hat nichts dafür an den Platz zu setzen; er hat kein faßbares Ideal,
sondern nur ein Nebelphantasma an Stelle eines solchen, das nicht Stand hält
der Betrachtung, dem also erst RechtSchreibversehen, statt: erst recht. nicht nachgestrebt werden kann. | Man kann
ein geistreicher Philosoph sein auf dem Standpunct der Skepsis, aber ein
Dichter oder ein Künstler muß, um Kunstwerke darzustellen einen positiven Stand haben, denn nur das Positive
ist ästhetisch zu genießen, das Negative ist nur für den diskursiven Verstand
da. Die Ibsen-Bewunderer täuschen sich, wenn sie glauben seine Dramen
ästhetisch zu genießen; dieselben reitzen nur ihren Verstand und befriedigen
ihr psychologisches Interesse u. s. w.; d. h.:
ihr „Genuß“ (– mir wären Stücke wie z. B. die Wildente und Nora u. Gespenster eine Qual anzusehen –) ist kein
ästhetischer, sondern ein intellectueller gleich dem beim Anhören eines
geistreichen Vortrages über Psychologie, Psychiatrie, Moralstatistik u. s. w.
u. s. w.
Mir fällt dabei noch Eines |
auf, worüber ich gerne Deine Meinung vernehme. Mich dünkt nämlich, daß die
Uebereinstimmung der Norwegischenhier und im Folgenden orientiert sich Olga Plümacher in der Großschreibung von Nationalitäten wohl am Englischen. Gesellschaft mit der Deutschen überschätzt
wird. Es macht mir den Eindruck, als ob der von Ib. als Durchschnitt angenommene
Geistesstandpunct ein niedrigerer, der intellectuelle HorizonSchreibversehen, statt: Horizont (oder engl. Schreibweise). ein engerer wäre als bei den selben Ständen in der
Schweiz und Süd-u.
Mittel-Deutschland. Die
Nord-Deutsch.
Gesellschaft kenne ich zu wenig; meine Nord-D. Bekannten sind mehr oder minder AusnahmsmenschenOlga Plümacher dürfte an die akademisch gebildeten Berliner Freunde und Bekannten um Eduard und Alma von Hartmann denken. – Spitzen
nicht Durchschnitt. Solche „blinde Hessen„seit dem 16. Jahrh. belegte spöttische Bezeichnung der Hessen, auf ihre angebliche geistige Blindheit bezüglich und wahrscheinlich auf üble Nachrede der Nachbarstämme zurückzuführen.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 5. Aufl. Bd. 3. Leipzig, Wien 1893, S. 90] Die Redewendung geht zurück auf die Sage wonach sich Hessen, die die Stadt Mühlhausen belagerten, von aufgestellten Soldatenattrappen auf den Wällen der Stadtmauern vertreiben ließen [vgl. Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staats. Bd. 1. Glogau 1867, S. 371f.].“ wie sie in Rosmersholm und „Brand“ herum fackeln die sind bei uns um 50 – 100 Jahre hinter
„der Mode“ zurück. – Ueber „Peer Gynt“ habe ich äußerst günstige Besprechungen gelesen; ich
bin gespannt darauf, vielleicht bringt es mir Ib. näher. ––– |
Daß die Frau Fanny OswaldSchreibversehen, statt: Oschwald; Fanny Oschwald-Ringier war die Mutter Walther Oschwalds und Schwester von Wedekinds Tante Bertha Jahn; sie schrieb zunächst unter Pseudonym Erzählungen und Novellen für Zeitschriften, später auch Theaterstücke für das Lenzburger Laientheater und Schwänke in Aarauer Mundart [vgl. Martha Ringier: Fanny Oschwald-Ringier 1840-1918. In: Lenzburger Neujahrsblätter Bd. 13, 1942, S. 15ff.]. Eine ihrer ersten Publikationen soll 1888 die Geschichte „Opfer der Verhältnisse“ im Sonntagsblatt der Tageszeitung „Der Bund“ gewesen sein [vgl. ebd., S. 24]. Der Text ist nicht ermittelt. Schriftstellerin geworden ist intressirt mich und mußt
Du mir etwas von ihr nennen, damit ich es per Probe lesen kann. Vielleicht eine
zweite Marlitdie unter dem Pseudonym E. Marlitt in der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ publizierende Schriftstellerin Eugenie John zählte zu den meistgelesenen Romanautorinnen ihrer Zeit. oder
„C. WernerPseudonym der Schriftstellerin Elisabeth Bürstenbinder (auch: E. Werner), die ebenfalls vorwiegend Fortsetzungsromane in der „Gartenlaube“ publizierte.“ Was Du
über den Grund der Sicherheit u. Schnelligkeit und gewisser Zutrefflichkeit
weiblicher Romanschriftstellerinnen
sagst ist ganz vorzüglich, und gerade deswegen kann es mich gar nicht gelüsten
mich auch auf diesem Felde zu versuchen: meine Lebenseinsicht ist philosophisch
zu verschärft und zu sehr erweitert um mich mit der Oberfläche zu begnügen und um
aus dem Tiefsten heraus zu produciren dazu fehlt mir die dichterische Begabung.
Wer | seinen Geist an Hegel
u. Hartmann geschult
hat, der kann keine Frauenromane mehr schreiben. Als Mann kann ich eben nicht
dichten, weil ich keiner bin erstlich, und wohl hauptsächlich; und weil
ich eben kein Dichter bin und als Mann Philosoph geworden wäre oder
Naturforscher nicht aber Dichter oder Künstler. So eine Anekdote zu einer
Novelette(engl.) Novelle. formen wie z. B. die „verl.
Zähr“Anspielung unklar; vermutlich ironischer Bezug auf die Titel der „Gartenlaube“-Literatur, die genannten „Frauenromane“, möglicherweise auch verballhornter Titel von Friedrich Schillers Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ (1792)., das kann jeder der überhaupt seiner Muttersprache völlig mächtig ist.
Mir fehlte übrigens auch die Lust längere Fabeln auszuspinnen; mehr Spaß machten mir Reiseberichte,
wenn eben Reisen im Bereich meines Könnens läge. Uebrigens muß man, um zu Schriftstellern noch an der
Welt hangen; muß entweder glauben man könne | die Welt „beßern u. belehren“, welcher GlaubeSchreibversehen, statt: welchen Glauben. ich nicht
hege; oder man muß an den Werth des Ruhmes glauben, was auch nicht mein Fall
ist. Mit voller Treu kann ich sagen, daß ich
nicht den leisesten Wunsch habe mir einen Namen zu machen. Geld machen würde
ich nicht ungern, nicht für meine Person, aber um freier in meinen Handlungen
gegen meine Nächsten zu sein. Daß man aber Geld mit Schreiben macht, dazu
braucht es nicht nur Talent, sondern auch Glück; es hängt ungemein viel davon ab, ob die
Erstlingsarbeiten einem Verleger in die Hände fallen, dem die spezielle Art u.
Weise des Autors sympathisch ist; das ist Zufall oder Schicksal – man kann ein
M. S. 50
Buchhändlern senden, die | alle sagen „Dutzendware“ – „wage es nicht“ u. s. w.,
und in einer andern Straße derselben Stadt wohnt vielleicht einer den man
vergißt und der „etwas ganz besonderes“ – , „etwas geheimnißvoll anziehendes“
etwas „unerklärlich feßelndes“ in dem Opus ausfindet/n/ würde, es nimmt/ähme/
und damit für sich u. den Autor Geld machte. Ich kann meine Zeit nicht darauf
hin wagen, ich kann nicht in diese LoterieSchreibversehen, statt: Lotterie (oder französische Schreibweise). setzen, obgleich der Einsatz nur (?) Zeit ist, da
ich zu viel Hausfrauen Pflichten habe. Mit der
philosophischen Abhandlung ist es etwas ganz anderes. Wenn man wirklich einen
phil.
Geist hat, so glaubt man zwar auch nicht damit etwas gutes zu thun; Geld bringt
sie nicht ein und Ruhm auch | auchSchreibversehen (Wortwiederholung beim Seitenwechsel), statt: auch. nicht, wenn man nicht eine Kraft ersten
Ranges ist, und auch in diesem Falle, ist die Berühmtheit mit so viel
Befeindung verbunden, daß die daraus erwachsende Annehmlichkeit fast aufgehoben
wird durch den Aerger sich mißkanntveraltet für: verkannt.
zu sehen, den auch der Phil. nicht umhin kann zu fühlen.
Aber eine phil. Abh.
schreibt man, weil einemSchreibversehen, statt: weil einen. das intellectuelle Gewissen drängt; der Geist läßt einem keine Ruhe bis man fixirt hat was ihn bewegt
– in diesem Punct ist sich die Phil. u. die Lyrik ähnlich: die Befriedigung liegt in dem Genüge thun einem aus dem
innersten Wesenskern erwachsenden Dranges. Ich muß auch noch | einmal sagen,
was ich zu sagen habe; und im phil. Gebiet
habe ich wirklich etwas zu sagen, alles andere wären Velleitätenkraftlose Bemühungen, tatenloses Wollen. ohne Werth und
ohne Berechtigung auf Erfolg irgend einer Art. ––– Also im Mai gehst Du nach BerlinWedekind war seit dem 18.5.1889 in Berlin [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 19.5.1889] und zog von dort am 5.7.1889 nach München um.. Du bist bereits
bei HartmannsDer mit Olga Plümacher befreundete Philosoph Eduard von Hartmann und seine Frau Alma (geb. Lorenz) wohnten in Lichterfelde bei Berlin (Wilhelmplatz 9, Parterre) [vgl. Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1890, Teil V, S. 76].
angekündigt und bereits ist die Antwort da, daß Du willkommen seist und daß Du Dir wahrscheinlich
in dem Kreise gefallen werdest, da gerade jetzt viel jüngere, zum theilSchreibversehen, statt: zum Theil. recht
bedeutende Männer bei ihnen verkehrten. Als alter Freund und fast jeden Sonntag
Theegast findest Du
dort einen Mann, der Dir vielleicht recht von Nutzen sein kann; nämlich den Director
der National-Gallerie, Dr. Ka Fritz, Baron von Göler von Ravensburg, ein sehr
liebens|würdiger Mann, feinste gesellschaftliche Form mit der völligen
Unbefangenheit und Einfachheit des Gelehrten verbindend, dabei eben ein
Süddeutscher, voll
Humor und Lebensbehagen. Er und Hartmann sind gewöhnlich anderer Meinung,
vertragen sich aber auf’s beßteSchreibversehen, statt: beste. und meint Göler es sei eben ganz verzwickt, so
lange man bei H.
sitze meine man immer er habe doch recht, wenn man vor- und nachher doch nicht
umhin könne eine abweichende Meinung zu haben. G. ist hoffähig (die Göler von Ravensburg sind ein uraltes Geschlecht im
Badischen; der VaterFreiherr August Göler von Ravensburg war Großherzoglicher badischer Kammerherr, Stadtdirektor und Kreishauptmann von Baden-Baden; er war bereits 1886 gestorben.
dieses Dr. G.’s
ist Oberpolizei-Director des Großh. Badens und in hohen Gunsten beim Großherzog; aber die Güter sind MajoratÄltestengut; mittelalterliches Erbrecht, nach dem der älteste Sohn das Majoratsgut als Ganzes erbt. und Dr.
Fritz ist der Jüngste; da er sich als Knabe | den Fuß abgeschoßen hatte, konnte
er nicht Militair werden, so studirte er und ging als Privatdozent für
Kunstgeschichte nach Berlin, wo er danSchreibversehen, statt: dann. den Posten bekam.) aber – wenigstens vor
3 JahrnSchreibversehen, statt: Jahren.– gingen sie nicht zu Hofe, weil die Finanzen es nicht erlaubten. Seine FrauElisabeth Göler von Ravensburg (geb. Ludewig) hatte Friedrich Göler von Ravensburg am 1.7.1884 in Berlin geheiratet [vgl. Heiratsregister Berlin III 1884, Zweitregister, Nr. 371]. ist hübsch und eine
etwas kokette Weltdame, Tochter eines LeibarztesDer Heiratsurkunde zufolge war Elisabeth Göler von Ravensburg die „Tochter des zu Funchal auf der Insel Madeira verstorbenen, zuletzt zu Vorsfelde wohnhaften Gerichts-Assessors Georg August Leopold Ludewig und dessen Ehefrau Henriette Georgine Charlotten Artemise geborene Ludewig, wohnhaft zu Braunschweig.“ [Heiratsregister Berlin III 1884, Zweitregister, Nr. 371 (1.7.1884)] Bei dem nicht näher identifizierten Leibarzt handelte es sich also möglicherweise um einen Stiefvater. eines kleinen Fürstennicht identifiziert. (hab’s vergessen welchen), und ist
zu Hofe dort aufgewachsen. Sie sieht Geister, träumt wahr und kann hypnotisirt,
suggestionirtim Fühlen und Denken beeinflusst werden. u. was weis
ich noch sonst werden und fällt in „Trance“ wenn sie in einer
mediumistischen Sitzungeine Zusammenkunft, in der mit Geistern Kontakt aufgenommen werden soll. ist. Aber – natürlich nur unter uns gesagt. – Hart. hält sie für einen
hübschen Humbug, dem man nicht ja nicht glauben schenkenSchreibversehen, statt: Glauben schenken. darf, den |
aberSchreibversehen, statt: den er aber (oder: den man aber). duldet, weil sie dabei lustig und witzig ist und es sich gut mit ihr plaudert. Durch Baron Göler
kannst Du vielleicht mit dem IntendantenGeneral-Intendant der Königlichen Schauspiele Berlin war als Nachfolger Botho von Hülsens seit 1886 Bolko von Hochberg.
des König. Schauspielh. bekannt werden.
Ferner findest Du bei H.
als regelmäßige Besucher: Pfleidererder Philosoph und Theologe Otto Pfleiderer, seit 1870/71 Professor an der Universität Jena, seit 1874 an der Humboldt-Universität in Berlin.,
Prof. der Dog. u. Rel. Gesch., ein Württemberger; grundgelehrtes
Haus und heiter im Umgang; Lasonder Philosoph und Gymnasiallehrer Adolf Lasson, seit 1877 Privatdozent der Philosophie an der Universität Berlin.,
ebenfalls Prof. der Dogmatik u. Phil.; v. DöringAugust Döring, Philosoph, zunächst Lehrer und Gymnasialdirektor in Dortmund, seit 1885 Privatdozent für Philosophie in Berlin mit zahlreichen Publikationen zur Philosophiegeschichte, Pädagogik und Ästhetik. ,
Schuldirector u. Schriftsteller; Oskar Linkder Schriftsteller Oskar Linke, den Olga Plümacher zuvor bereits ausführlich charakterisiert hatte [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 15.11.1885]., ein Dichter der die Frauen haßt, ein wenig
angenehmer Mann, aber H.
recht treu zugethan. Dann einige Mediziner, darunter ein Judenicht identifiziert. als Dutz-FreundSchreibversehen, statt: Duz-Freund u.
Schulkamerade. H.’s
Tochter | erster Ehe, MarieMarie von Hartmann, Tochter aus Eduard von Hartmanns erster Ehe mit Agnes Taubert. Die Heirat fand am 3.7.1872 in Charlottenburg statt. Agnes von Hartmann starb am 8.5.1877.,
ist jetzt 16 Jahre, nicht hübsch und geistig völlig unbedeutend aber ein gutes
Kind mit einem gewantenSchreibversehen, statt: gewandten. Berlinermundstück. Verliebst Du Dich in sie, so ist’s
kein Unglück, denn sie erbt ein schönes Vermögen von ihrer Großmutter der
verwitweten Oberst Taubert,
und die Stiefmutter
wäre wohl nicht abgeneigt sie früh zu verheirathen. Dagegen ist Frau v. H.’ SchwesterSchreibversehen, statt: v. H.’s Schwester. Klara, genannt „Pepi“,
die jedes Semester von Bremen
herüber zu Besuch kommt eine gefährliche Person, insofern sie hübsch,
geistreich und weltgewantSchreibversehen, statt: weltgewandt. ist, dabei aber sehr
verwöhnt und anspruchsvoll und kein Vermögen hat. Kurz es wird
Dir dort schon gefallen. – Doch Du mein Gott! was schwatze ich da alles
zusamen! es wird | Zeit, daß ich ende, sonst sagst Du: o über die alten Weiber!
Also: nochmals schönen Dank für die Feuilletons. „Zirkus-G.[“] und „ü. d. Witz“ geht mit dem Brief
an Dich heute zurück; „Gährungen“ – die ganz reizend sind – behalte ich noch
oder – wenn Du mehr Ex.
hast – überhaupt. Und nun adieu lieber Franklin; schreibe mir noch einmalFrank Wedekind schrieb Olga Plümacher am Karfreitag, den 19.4.1889 (nicht überliefert), wie aus einem Brief an die Mutter hervorgeht [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.7.1889]. bevor
Du nach B. gehst.
Den Brief zur Einf.Aus dem April oder Mai 1889 ist kein Empfehlungsbrief Olga Plümachers für Frank Wedekind überliefert; erhalten ist dagegen ein Brief vom 9.6.1889 an Alma von Hartmann [vgl. Mü, FW B 130], den Frank Wedekind am 26.6.1889 während seines kurzen Berlinaufenthalts (18.5.1889 bis 4.7.1889) erhielt. Im Tagebuch hielt er fest: „Mama schickt mir eine Empfehlung von Tante Plümacher an Frau Hartmann. [...] Ich bin noch unentschlossen ob ich davon Gebrauch machen soll.“ [Tb 26.6.1889] Am 5.7.1889 ging Frank Wedekind nach München. Da das Schreiben an Alma von Hartmann in Wedekinds Nachlass verblieben ist, kann davon ausgegangen werden, dass er das Ehepaar nicht besuchte. sende ich im April.
Hier in Amerika möchte ich Dich ja nicht sehen, so gerne ich Dich habe
und so unendlich gerne ich mit Dir wieder einmal plauderte. Aber für Deine
vortreffliche Mutter
ist es just genug Sorge, daß sie zwei Söhne in zwei fremden WelttheilenWilliam Wedekind war bis vor Kurzem noch in den USA gewesen und plante die Auswanderung nach Südafrika im Herbst des Jahres. Donald Wedekind war im Februar 1889 zu Verwandten seiner Mutter in die USA gereist. hat; bleib Du bei ihr als ihre
Freude und Stütze. | Auch taugt A. nicht für Dichter und Künstler; Geld können sie machen unter
Umständen, leiden aber Schaden an ihrer Seele. Wenn Mißerfolge Dich quälen u.
Dir die europ.
große Welt verleiden sollte – was wir aber nicht fürchten wollen – so
sitze auf Deiner Väter
Schloß und werde
Oekonom und bist Du dabei ein guter Mann, so bist Du Manns genug.
Die Araber sagen: ein
Mann sollverbreitete Wendung, wonach die „Lebensregel der Araber [sei], dass der Mensch das Leben benützen soll, entweder einen Baum zu pflanzen, oder ein Kind zu zeugen, oder ein Buch zu schreiben.“ [Carl du Prel (Hg.): Immanuel Kants Vorlesungen über Psychologie. Leipzig 1889, S. LXIV] einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen, ein Buch schreiben; jedes
einzelne ist eine gute That; u. an der That liegts, nichts am Erfolg. Adieu
nochmals. An Mama schreib ichDer Brief Olga Plümachers an Emilie Wedekind ist nicht überliefert. heute ebenfalls. Deine alte Tante
O. Plümacher.