Kennung: 629

München, 11. Oktober 1902 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kunolt, Heinrich

Inhalt

FRANK WEDEKIND.


MÜNCHEN, den 11. Oktober 1902.
Franz Josefstr. 42/II.


Lieber Kunold/tWedekind war mit dem Kunstmaler Heinrich Kunolt befreundet, der zuvor in München (Georgenstraße 53) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1902, Teil I, S. 346] lebte und dort bei den Elf Scharfrichtern in Wedekinds Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ auftrat (siehe unten). Heinrich Kunolt verkehrte in München im Kreis um Max Halbe: „Der Geselligkeit diente Max Halbes zur Kegelbahn gewordene ‚Unterströmung‘, welcher [...] Heinz Kunold“ [Kutscher 2, S. 74] angehörte. „Da war der begabte Zeichner und Karikaturist Heinz Kunolt mit seinem rheinischen Mutterwitz und der glücklichen Gabe, sich überall nützlich zu machen, das geborene Faktotum.“ [Halbe 1935, S. 266] Wedekind hat in einem 1909 verfassten Entwurf zu „Mit allen Hunden gehetzt“ charakterisierende Worte der Figur Meinrad Luckner mit „Heinrich Kunold“ [KSA 7/II, S. 724] überschrieben./!

Besten Dank für Deine beiden ausführlichen Briefenicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Heinrich Kunolt an Wedekind, 4.10.1902 und 10.10.1902.. Den erstender nicht überlieferte Brief vom 4.10.1902 (siehe oben). ließ ich bis jetzt unbeantwortet, da ich für die Aufführung des Marquis von KeithWedekinds „Marquis von Keith“ war etwa eine Woche zuvor für eine Erstaufführung in München angenommen worden, wie die Presse meldete: „Vom Akademisch-dramatischen Verein wurde der Marquis von Keith von Frank Wedekind zur Aufführung angenommen und soll am Münchener Schauspielhaus in Szene gehen.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 105, Nr. 273, 4.10.1902, 2. Morgenblatt, S. 6] Die vom Akademisch-dramatischen Verein (Vorsitzender: Fritz Brüggemann) veranstaltete Münchner Premiere fand im Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) mit Wedekind in der Titelrolle sowie unter seiner Regie als geschlossene Vorstellung statt (am 27.10.1902 eine öffentliche Vorstellung), wie angekündigt war: „Die vom Akademisch-dramatischen Verein veranstaltete Aufführung des Marquis von Keith von Frank Wedekind findet als Sondervorstellung des Münchener Schauspielhauses Montag, den 20. Oktober, nur vor geladenem Publikum statt.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 105, Nr. 278, 9.10.1902, 2. Mittagblatt, S. 3] ziemlich viel zu thun habe. Es freut mich außerordentlich, daß Du dich in Berlin so gut eingelebtHeinrich Kunolt lebte inzwischen in Berlin, wo er als Inspekteur am Bunten Theater (Überbrettl) tätig war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 269]; wann genau er München verlassen hat, ist unklar. Im Sommer war er bereits in Berlin, wie aus Max Halbes Tagebuch [vgl. Tb Halbe] hervorgeht, der Begegnungen dort mit Heinrich Kunolt, der mit Carl Rößler (Pseudonym: Franz Ressner) und Julius Schaumberger, die ebenfalls inzwischen in Berlin lebten, zu seinem engeren „Kreis von Freunden“ [Halbe 1935, S. 266] gehörte, am 20.6.1903 („Abends Stallmann m. Ressner, [...] Schaumberger, Kunolt“), am 27.7.1903 („Ressner, Schaumberger, Kunolt kommen“) am 30.8.1903 („Abends in Berlin, von Kunolt abgeholt“) und am 31.8.1903 („Abends bei Stallmann, wo [...] Kunolt, Ressner, Schaumberger“) notierte. hast.

Was nun die Pantomime betrifftWedekinds Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897), die am 12.3.1902 bei den Elf Scharfrichtern in München uraufgeführt worden ist (siehe unten) und nun in Berlin inszeniert werden sollte., so freut es mich sehr daß sie in Scene gehen sollam Bunten Theater (Überbrettl) in Berlin, wie Wedekind aus Heinrich Kunolts nicht überlieferten Brief vom 10.10.1902 (siehe oben) erfahren haben dürfte. Das Bunte Theater (Überbrettl) wurde neuerdings nicht mehr von Ernst von Wolzogen, sondern von Martin Zickel geleitet [vgl. Wedekind an Heinrich Kunolt, 3.4.1903]. Die Presse meldete kurz darauf: „Im Bunten Theater [...] befindet sich [...] die Pantomime von Frank Wedekind ‚Die Kaiserin von Neufundland‘ in Vorbereitung.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 491, 19.10.1902, Morgen-Ausgabe, S. 8] Die „für Ende April 1903 angekündigte Aufführung in Berlin auf der ‚Bunten Bühne‘ Ernst von Wolzogens kam nicht [...] zustande.“ [KSA 3/II, S. 794]. Aber leider kann ich mich zu Gunsten einer glänzenden Ausstattung nicht zu Zugeständnissen verstehen die den Sinn beeinträchtigen, wie es das Spielen der ersten zwei Akte in derselben Decoration wäre. Die Decorationen sind SaalDie Bühnenanweisung für das Erste Bild von Wedekinds Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ lautet: „Die Bühne stellt einen in romanischem Stil gehaltenen Prunksaal im kaiserlichen Palast dar. – Links, etwas nach vorn, unter schwerem Baldachin ein erhöhter Thron. Rechts, gegen die Mitte zu, ein breites, molliges Lager; davor ein Eisbären- oder Tigerfell. Den Hintergrund bildet eine nach rechts und links offene Kolonnade, zwischen deren mittleren Säulen ein Chorpult steht. Durch kleine Rundbogenfenster erblickt man den blauen Himmel. Rechts vorn ein hohes Portal.“ [KSA 3/I, S. 59] und gothisches ZimmerDie Bühnenanweisung für das Zweite Bild von Wedekinds Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ lautet: „Die Bühne stellt ein hochgewölbtes gotisches Gemach dar. Den Hintergrund bildet ein um vier Stufen erhöhter, nach beiden Seiten offener Söller. Durch weitgeöffnete Spitzbogenfenster blickt man in eine klare Mondnacht hinaus. In der Entfernung Berge mit dichten dunklen Tannenwäldern. Rechts und links vorn je eine hohe Spitzbogenthür mit schweren Portieren. Noch weiter nach vorn, zu beiden Seiten, je eine große alte eichene Truhe. In der linken Seitenwand ein hoher offener Kamin. In der Mitte des Gemaches, soweit als möglich nach hinten, unter einem purpurnen Zeltdach ein sehr breites, mit weißer Seide überzogenes Lager. In der Mitte des Zeltdaches hängen über dem Lager als Embleme Krone, Scepter und Reichsapfel.“ [KSA 3/I, S. 70]. Diese beiden Decorationen | sind auf der elendesten Dorfbühne stehendes Inventar. Mir ist die bescheidenste Ausstattung genügend, wenn sie richtig ist und ich muß gegen die glänzensteSchreibversehen, statt: glänzendste. protestieren, wenn sie falsch ist. Ich habe durch solche sinnbeeinträchtigenden Verbesserungen von Seiten der Regie schon zu viel Unheil erlitten, als daß ich darin noch Spaß verstehe.

Was die Orchestrierung der Musik betrifft, so habe ich dagegen im Prinzip nichts einzuwenden. Diese Orchestrierung kann aber erst gemacht werden nachdem die Proben begonnen haben. Woher in aller Welt soll der Kapellmeisterwohl Oscar Straus (siehe unten), auch wenn außer ihm am Bunten Theater (Überbrettl) in Berlin noch zwei weitere Kapellmeister – Fritz Lehner und Leo Hartmann – tätig waren [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 269]. sonst wissen, wie lang jede Scene dauert. Wird die Orchestrierung vorher festgestellt, dann muß sich entweder das Spiel nach der Musik richten und dann fallen sämmtliche Witze unter den Tisch oder die Orchestrierung muß vollständig geändert werden und die Arbeit war umsonst. Ich bin in München ohne eine geschriebene | Note auf die erste Probedie erste Probe zur Uraufführung am 12.3.1902 der Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ bei den Elf Scharfrichtern in München, die angekündigt war: „Wie bereits gemeldet, findet die erste öffentliche Exekution des neuen Programms am kommenden Mittwoch statt. Dasselbe gewinnt schon dadurch eine besondere Bedeutung, daß es eine größere dramatische Arbeit von Frank Wedekind enthält, nämlich die Pantomime ‚Die Kaiserin von Neufundland‘, die bekanntlich im vergangenen Sommer im Darmstädter Ausstellungstheater zur Aufführung kommen sollte. Wedekind hat die Pantomime den Bedingungen der Scharfrichterbühne entsprechend umgearbeitet und selbst einstudirt.“ [Die Elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 117, 11.3.1902, Vorabendblatt, S. 3] Die männliche Hauptrolle – „EUGEN HOLTHOFF, der stärkste Mann der Welt“ [KSA 3/I, S. 58] – spielte Heinrich Kunolt. Seine Darstellung der Rolle wurde gelobt: „Frank Wedekinds Pantomime ‚Die Kaiserin von Neufundland‘ erfordert allein ein 18köpfiges Personal. Sie ist wohl das Kunterbunteste, was Wedekind je geschaffen. [...] Hier genügt wohl die Andeutung, daß außer Ihrer sehr verliebten Majestät [...] Holthoff, der stärkste Mann der Welt, auftreten. Wedekind könnte sich für dieses Produkt seines verruchten Humors gar keine bessere Darstellung wünschen. Sogar für den stärksten Mann der Welt haben die Scharfrichter in Herrn Kunstmaler Heinrich Kunold einen durchaus würdigen Vertreter gefunden. Er spielt den Lohengrin im Athletengewande mit Zirkusgrandezza und trockener Komik.“ [Die Elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 123, 14.3.1902, Vorabendblatt, S. 4] gekommen und die Sache gieng glänzend. Ich sehe nicht ein warum es sich bei den wol größeren Kräften am Bunten Theater nicht auch mit der Orchestrierung so machen lassen soll. Übrigens kann ich auch unmöglich zugeben daß außer mirWedekind selbst hatte für seine Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ musikalische Arrangements festgelegt, die im Notizbuch teilweise in einer Liste zur musikalischen Begleitung zu den Bildern I bis III und Noten erhalten sind [vgl. KSA 3/II, S. 794, 798-801], und bediente sich für die Uraufführung in München (siehe oben) einer von ihm „selbst zusammengestellten Potpourri-Musik“ [Wedekind an Beate Heine, 5.8.1902]. noch ein musikalischer Autorwohl Oscar Straus, 1. Kapellmeister am Bunten Theater (Überbrettl) in Berlin [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 269], dessen musikalische Leitung in den Bühnenprogrammen stets genannt ist und der bei seinem Engagement in dem neu organisierten Kabarett wie ein Star angekündigt war: „Die Leitung des ‚Bunten Theaters‘ für die nächste Saison hat eine Ergänzung erfahren, indem zu Dr. Martin Zickel und Marcel Salzer nun auch Oscar Straus, als erster Kapellmeister und musikalischer Leiter hinzutritt.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 31, Nr. 257, 24.5.1902, Morgen-Ausgabe, S. (2)] der Pantomime erwähnt wird. Was musikalisch zu ihrer Aufführung nötig ist, kann ich mit jedem x-beliebigen Kapellmeister arrangieren. Auf einen ComponistenWedekind hatte bisher mit zwei Komponisten über „Die Kaiserin von Neufundland“ verhandelt, zuerst mit seinem nun bei den Elf Scharfrichtern als Hannes Ruch firmierenden Freund [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 1.4.1897 und 30.6.1897], dann mit Hans Merian, der mit der „Composition“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 10.12.1897] zwar begonnen hatte, gleichwohl „die gewünschten Kompositionen nicht lieferte“, weshalb die geplante Uraufführung der Pantomime in Leipzig 1898 „nicht zustande“ [KSA 3/II, S. 794] kam. habe ich für die Pantomime volle acht Jahre langseit 1894; demnach hatte Wedekind sich schon in seiner Pariser Zeit mit dem Projekt seiner Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ beschäftigt, nicht erst Anfang 1897 [vgl. KSA 3/II, S. 777]. vergeblich gewartet. Ich möchte mir jetzt das Verdienst, die Pantomime aus eigener Kraft auf die Beine gestellt zu haben, gegenüber der Öffentlichkeit und zu gunsten irgend eines x-beliebigen Kapellmeisters nicht gern wieder verkümmern lassen.

Gegen die BesetzungDie Rolle des Athleten Eugen Holthoff sollte in der geplanten Berliner Inszenierung der Pantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ wie in der erfolgreichen Münchner Uraufführung bei den Elf Scharfrichtern (siehe oben) vermutlich wieder mit Heinrich Kunolt besetzt werden. habe ich im Wesentlichen nichts einzuwenden; dagegen müßte ich, was aus dem Gesagten hervorgeht, darauf bestehen, die Pantomime selber einzustudieren. Am 20. Oktoberder 20.10.1902, der Termin der Münchner „Marquis von Keith“-Premiere (siehe oben). | ist „Marquis von Keith“ hier im Schauspielhaus. Da ich das Stück ganz allein einstudiereWedekind führte bei der Münchner Premiere des „Marquis von Keith“ (siehe oben) die Regie, auch wenn der Veranstalter in der Presse scheinbar gleichrangig mitgenannt war: „Die Leitung der Aufführung liegt in den Händen von Frank Wedekind und Fritz Brüggemann, dem Vorsitzenden des Vereins.“ [Akademisch-dramatischer Verein. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 478, 15.10.1902, Vorabendblatt, S. 3]n, kann kannSchreibversehen, statt: kann. ich leider vorher auf keinen Fall abkommen. Dagegen stände ich nachher eventuell zur Verfügung.

Grüße bitte Dr. ZickelDr. phil. Martin Zickel in Charlottenburg (Grolmanstraße 55) [vgl. Berliner Adreßbuch 1903, Teil I, S. 2020], inzwischen stellvertretender Direktor und Oberregisseur an Ernst von Wolzogens Buntem Theater (Überbrettl) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1903, S. 269], das er zunächst ab dem 1.9.1902 gemeinsam mit Marcell Salzer geleitet hat: „Das Bunte Theater eröffnet seine neue Spielzeit unter der Direktion Dr. Martin Zickel und Marcell Salzer am 1. September d.J.“ [Die kommende Saison im „Bunten Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 31, Nr. 329, 2.7.1902, Morgen-Ausgabe, S. (3)] aufs Beste von mir und sei selber herzlichst gegrüßt von Deinem getreuen
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 20 x 25 cm. Mit gedrucktem Briefkopf.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Brief ist nach einem im Autografenhandel [Autographen K. Meixner (Würzburg): Liste 198, Nr. 26] zugänglichen Faksimile wiedergegeben; danach auch die Beschreibung der Materialität (Maße nach einem Vergleichsstück).

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    11. Oktober 1902 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Heinrich Kunolt, 11.10.1902. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (01.07.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

22.05.2024 22:56