Kennung: 704

Paris, 1. September 1908 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Humières, Robert d'

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

34 rue de Tocqueville


Monsieur et Maître

Je ne renonce pas à l’espoir de vous voirEin Treffen ist nicht ermittelt. à Münich à la fin du mois mais ne puis attendre si tard, à cause des répétitions qu’il importe de commencer, pour vous parler de votre œuvre et des conditions les meilleurs où nous voudrions, d’accord avec Miss AndrewsDie Agentur von Daisy Hardenberg Andrews besaß das Vertriebsrecht für Wedekinds Stücke in Frankreich und England [vgl. Kutscher 3, S. 79]. Wedekind notierte im Tagebuch mehrere Treffen mit ihr – am 27.7.1908 („Nachmittag Besprechung mit Miss Andrews bei Baruch“), 28.7.1908 („Vormittag mit Miss Andrews und Baruch bei Dr. Bamberger“) und 30.7.1908 („Fahre mit Tilly zu Dr. Bamberger, treffen dort Baruch und Miss Andrews. Unterzeichnung des Kontraktes zwischen Miss Adrews und mir Beglaubigung der Unterschriften“). Es dürfte um die Aufführungsrechte für „Frühlings Erwachen“ in Paris gegangen sein. Daisy Andrews war in dieser Zeit für das Théâtre des Arts von Robert d’Humières tätig., la présenter au public françaisDie französische Erstaufführung von „Frühlings Erwachen“ („L’Eveil du Printemps“) fand am 28.10.1908 im von Robert d’Humières geleiteten Théâtre des Arts am Boulevard Batignolles in Paris statt; darüber wurde Wedekind telegrafisch informiert, wie er am 28.10.1908 notierte: „Laut Telegramm Premiere Fr. Erw. in Paris.“ [Tb]

Je désirais le faire depuis la représentationWedekinds „Frühlings Erwachen“ wurde am 20.11.1906 unter der Regie von Max Reinhardt in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin uraufgeführt – eine überwältigend erfolgreiche Inszenierung. à laquelle j’ai assisté à Berlin il y a un an et demi. La nouveauté et la force de la pièce m’avaient séduit, mais je me suis rendu compte qu’elle paraîtrait plus hardie encore aux Français qu’aux Allemands et qu’une grande prudence était nécessaire pour ne pas choquer un public qui est le plus routinier de la terre et qui n’est pas habitué à regarder avec gravité les questions sexuelles. – L’œuvre est saine, généreuse, morale dans le sens le plus élevé du mot, il ne faut pas qu’on puisse lui reprocher d’être un appel à ce que | les imbéciles nomment les basses passions de l’homme. Le succès dépend des ménagements nécessaires pour les préjugés anciens. Il serait dangereux que Wendla parût provocante ou sensuelle, ou Melchior cynique. Ce ne sont que des nuances – il ne s’agit pas d’altérer en quoi que ce soit le drame sur lequel vos droits restent naturellement entiers et que mon devoir est de servir en l’interprétant – Je me permets seulement de vous suggérer certains allègements qu’exige, je crois, la mentalité française

1o La Scène IV du 1er ActeDie Szenen- und Aktnummern beziehen sich auf die Bühnenfassung von „Frühlings Erwachen“ von 1906 [vgl. KSA II, S. 323-376]. est déconcertante pour des Français à cause de ce milieu scolaire qu’il ignoreSchreibversehen, statt: qu’ils ignorent. – elle ne se rattache pas nécessairement à l’action et une phrase de Moritz parlant de ses idées de | suicide à Melchior au début du II suffisentSchreibversehen, statt: suffit. à la remplacer

2o A l’Acte II, consentirez-vous à ce que Moritz lût un fragment de la lettre de Me Gabor avant de se suicider de manière à pouvoir supprimer la scène IV où Me Gabor écrit la dite lettre ? Ce serait un changement de décor évité.

3e La scène V de l’Acte II (le jardin des Bergmann risque de produire une impression fâcheuse sur des bourgeois pour qui une ingénue en pareille circonstance doit montrer plus de réserve – surtout l’évènement s’étant produit sans amour). Cette joie animale de l’instinct a sa poésie mais est encore au delà de la compréhension du public. Wendla en perdra la sympathie. |

Enfin, la scène finale de la pièce est originale et puissante mais très éloignée des habitudes d’esprit françaises. Je vous soumettrai la version que je crois la plus propre à produire l’effet désirable et vous demanderai de la reprendre et de l’abréger encore.

Vous voyez que l’esprit et le caractère de l’œuvre n’auront à souffrir en rien de cette adaptation. Je la crois indispensable aux exigences de la scène française et suis sûr, d’après les changementsWedekind hatte aufgrund der Zensur 1906 für die Uraufführung von „Frühlings Erwachen“ (siehe oben) umfangreiche Änderungen an der ursprünglichen Fassung des Stückes von 1891 vorgenommen [vgl. KSA II, S. 764]. que vous avez apporté vous-même au texte primitif, que vous en comprendrez l’opportunité.

Croyez, je vous prie, cher Monsieur, à tout le plaisir et l’honneur que je me promets de travailler avec vous et de faire connaître à mes compatriotes une forme de beauté aussi neuve et hardie que celle que vous avez ajoutée à l’art dramatique contemporain.

Robert d’Humières


[Übersetzung:]


Verehrter Herr und Meister,

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, Sie Ende des Monats in München zu sehen, kann aber, da wir mit den Proben beginnen müssen, nicht so lange damit warten, mit Ihnen über Ihr Werk zu sprechen und über die bestmöglichen Voraussetzungen, unter denen wir es, im Einvernehmen mit Miss Andrews, dem französischen Publikum darbieten möchten.

Seit der Aufführung, der ich vor anderthalb Jahren in Berlin beigewohnt habe, wünschte ich mir, es auf die Bühne zu bringen. Die Neuheit und die Kraft des Stückes hatten mich begeistert, aber ich habe erkannt, dass es den Franzosen noch kühner erscheinen würde als den Deutschen und dass eine große Umsicht erforderlich sein würde, um nicht ein Publikum zu schockieren, das das routinierteste der Welt ist und das nicht daran gewohnt ist, sexuelle Fragen ernst zu betrachten. – Das Werk ist gesund, edel, sittlich im höchsten Sinne des Wortes; man sollte ihm nicht vorwerfen können, dass es anspreche, was Dummköpfe die niederen Leidenschaften des Menschen nennen. Der Erfolg hängt davon ab, den alten Vorurteilen mit der notwendigen Vorsicht zu begegnen. Es wäre gefährlich, wenn Wendla verführerisch oder sinnlich erschiene oder Melchior zynisch. Das sind nur Nuancen – es geht nicht darum, irgend etwas am Drama zu verfälschen. Ihre Rechte daran bleiben selbstverständlich in Gänze erhalten und meine Aufgabe besteht darin, ihm zu dienen, indem ich es darstelle. Ich erlaube mir lediglich, Ihnen einige Entlastungen vorzuschlagen, die die französische Mentalität meiner Meinung nach erfordert.

1. Die 4. Szene des 1. Aktes verwirrt die Franzosen wegen jenes Schulmilieus, das sie nicht kennen – sie steht nicht notwendigerweise im Zusammenhang mit der Handlung und ein Satz von Moritz zu Beginn des 2. Aktes, in dem er Melchior von seinen Selbstmordgedanken erzählt, reicht aus, um sie zu ersetzen.

2. Wären Sie im 2. Akt damit einverstanden, dass Moritz einen Auszug aus dem Brief von Frau Gabor liest, bevor er Selbstmord begeht? Auf diese Weise könnte man die 4. Szene streichen, in der Frau Gabor den besagten Brief schreibt. So könnte man einen Umbau des Bühnenbildes vermeiden.

3. Die 5. Szene des 2. Aktes (der Garten der Bergmanns läuft hier Gefahr, einen unerfreulichen Eindruck bei den Bürgerlichen zu erzeugen, um derentwillen eine Naive unter ähnlichen Umständen mehr Zurückhaltung zeigen muss – vor allem da sich das Ereignis ohne Liebe abgespielt hat). Diese animalische Triebfreude ist durchaus poetisch, übersteigt jedoch das Verständnis des Publikums. Wendla verlöre hier die Sympathie.

Schließlich ist die Schlussszene des Stückes originell und kraftvoll, aber sehr weit entfernt von den französischen Geistesgewohnheiten. Ich werde Ihnen die Version unterbreiten, die ich am geeignetsten dafür halte, den gewünschten Effekt zu erzeugen, und werde Sie bitten, sie zu überarbeiten und noch weiter zu kürzen.

Sie sehen, dass der Geist und das Wesen des Stückes unter dieser Bearbeitung nichts zu leiden haben werden. Ich halte sie angesichts der Anforderungen der französischen Bühne für unentbehrlich und ich bin sicher, dass Sie – in Anbetracht der Änderungen, die Sie selbst am ursprünglichen Text vorgenommen haben – die Zweckmäßgikeit verstehen werden.

Seien Sie versichert, verehrter Herr, dass ich mir alle Freude und Ehre davon erhoffe, mit Ihnen zu arbeiten und meinen Landsleuten eine so neue und kühne Form der Schönheit nahezubringen, wie die, die Sie der zeitgenössischen Dramenkunst hinzugefügt haben.

Robert d’Humières

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 18 x 13,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Adresse und Unterschrift sind von der Hand Robert d’Humières. Der Brieftext ist von fremder Hand geschrieben, möglicherweise nach Diktat.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 1.9.1908 ist als Ankerdatum gesetzt – ein mögliches Schreibdatum. Der Brief wurde dem Briefinhalt zufolge in Vorbereitung der französischen Erstaufführung von „Frühlings Erwachen“ am 28.10.1908 im von Robert d’Humières geleiteten Pariser Théâtre des Arts in Paris geschrieben. Wedekind hatte den Vertrag dazu am 30.7.1908 in Berlin mit der Theateragentin Daisy Andrews unterzeichnet [vgl. Tb].

  • Schreibort

    Paris
    1. September 1908 (Dienstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Paris
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 11, Mappe 6, Autographen
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Robert d' Humières an Frank Wedekind, 1.9.1908. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (10.04.2025).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Cordula Greinert

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

25.02.2025 17:29