Leipzig, 11.II.1900.
Meine liebe verehrte Freundin!
Seit acht Tagenseit dem 3.2.1900, dem Tag, an dem Wedekind aus der Festungshaft entlassen wurde. athme ich wieder freie Luft, aber unter so
erkälteten Verhältnissen und in solcher schwebender Ungewißheit, daß Sie mir
nicht zu sehr zürnen dürfen, daß ich erst heute für Ihre lieben Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 2.2.1900. danke.
Ich denke mir nach dem Trubel und den Ueberraschungen der letzten vier Tagevom 8.2.1900 (Donnerstag) – als Wedekind abends in Leipzig eintraf (er kam von Dresden, wo er nach seiner Entlassung aus der Festungshaft am 3.2.1900 die ersten Tage in Freiheit verbrachte) – bis 11.2.1900 (Sonntag).,
d.h. seit meiner Ankunft in Leipzig, nur immer, wie einsamBeate Heine war allein in Hamburg zurückgeblieben, als ihr Mann Carl Heine mit seinem Ensemble auf Gastspielreise ging. Sie sich fühlen
müssen; ich habe die intensive Empfindung, daß Sie doch nothwendig mit dazu
gehören. Ich habe das Gefühl, daß Ihnen und mir damit ein Unrecht geschieht. Ich
bin in Folge Ihrer Abwesenheit nämlich auch Quantité négligeable(frz.) zu vernachlässigende Größe.. Heute ist
KammersängerprobeWedekinds drei Szenen „Der Kammersänger“ (1899) wurden im Rahmen des Gastspiels des Dr. Heine-Ensembles im Krystallpalast in Leipzig aufgeführt (siehe unten); es spielten Arthur Waldemar (die Titelrolle des Gerardo), Helene Riechers (Helene Marowa), Mizzi Callweit (Miss Isabel Coeurne) und Egbert Soltan (Professor Dühring), Regie führte Carl Heine.. Daß ich nicht dabei erscheinen darf, brauche ich Ihnen kaum
zu sagen. Ich sage mir aber folgendes: die Zeit ist sehr
kurz und der gute Erfolg von allergrößter
Bedeutung. Also warum
nicht stillhalten. Ich komme dann hier in Leipzig abends an in der Erwartung,
in einigen Tagen Ihren Herrn Gemahl zu treffen, gehe, um alte Erinnerungenan die Zeit in Leipzig von Ende 1897 bis Sommer 1898 im Kreis um die Literarische Gesellschaft in Leipzig und deren von Carl Heine geleitetes Theater (Ibsen-Theater), an dem Wedekind als Dramaturg und Schauspieler engagiert war; „Der Erdgeist“ (1895) als erstes Stück Wedekinds überhaupt wurde in Leipzig durch Carl Heines Ensemble im Krystallpalast uraufgeführt.
aufzufrischen, am ersten Abendam 8.2.1900 (Donnerstag). in den Krystallpalast, sehe ihn dort am nächsten
Tisch sitzen, verbringe den Abend mit ihm; am nächsten Tageam 9.2.1900 (Freitag). diniren wir
zusammen, treffen dabei Merian. Nach Abfahrt Herrn Doctors gehen Merian und ich
zu KlingerMax Klinger, Maler und Bildhauer, wohnte in Leipzig in der Carl Heine-Straße 2 (Parterre); sein Atelier (nach seinen Plänen erbaut) befand sich in der Carl Heine-Straße 6 [vgl. Leipziger Adreß-Buch für 1900, Teil I, S. 474]. und kneipen den Rest des Abends im Atelier zwischen Beethoven und
Jesus im OlympMax Klinger hatte nach Vorarbeiten um 1886 in den 1890er Jahren mit der Großplastik eines Beethoven-Denkmals im Jugendstil begonnen (der Komponist sitzend mit nacktem Oberkörper in Marmor), die er in Leipzig vollendete und die erstmals vom 15.4.1902 bis 15.6.1902 in der Beethovenausstellung der Wiener Secession zu sehen war (Höhe allein der Figur: 150 cm, mit Thron: 155 cm, des Denkmals insgesamt: 310 cm). Sein monumentales symbolistisches Gemälde „Christus im Olymp“ (Öl auf Leinwand, 5,50 x 9 Meter) war 1897 fertiggestellt. ungezählte Flaschen, nächsten Tagam 10.2.1900 (Samstag). Katzenjammerkörperlich matte Befindlichkeit nach Alkoholkonsum., zum Schluß große
Kneiperei, heute Katzenjammer, bei Tisch klopft mir jemand auf die Schulter, es
ist Ihr Herr Gemahl, hat aber keine Zeit, Probe, soll ihn um 7 Uhr abholen. Ich
gehe in mein HotelWedekind logierte in Leipzig in Müller’s Hotel (Matthäikirchhof 12) [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 11.2.1900]. und schreibe endlich an meine liebe Freundin, was ich seit
dem ersten Augenblick meines Hierseins thun wollte; leider war ich aber
indessen fürchterlich erkältet, konnte Ihnen also auch die Grüße noch nicht
ausrichten, die mir Ihr Herr Gemahl, ich weiß nicht mehr an welchem Tage, an
Sie aufgetragen. Bei alledem stecke ich aber auch wieder bis an den Hals in
meiner Arbeit und werde wol Mitte dieser Woche nach München fahren, um sie dort
in Ruhe zu Ende zu bringenWedekind wollte sein Stück „Marquis von Keith“ (1901) in München abschließen, das fast fertig war [vgl. KSA 4, S. 413].. Alles weitere wird sich dann schon finden.
Sie gratuliren mir zu meiner ErbschaftWedekind hatte eine Erbschaft in Aussicht, deren Auszahlung sich jedoch verzögerte (siehe dazu Wedekinds Korrespondenz mit seinem Schwager Walther Oschwald).; bis jetzt habe ich
aber noch nichts davon, vor einem Monat wird sie nicht fällig werden. Bis jetzt
lebe ich immer noch von meiner Majestätsbeleidigung.
Ich zittere für den Kammersänger, nicht meinet-, sondern
Herrn Doctors wegenCarl Heines Ensemble hatte mit „Der Kammersänger“ auf der letzten Gastspielstation vor Leipzig, in Halle an der Saale, wo der Einakter am 31.1.1900 am dortigen Thalia-Theater gespielt wurde, nur mäßigen Erfolg, wie die Pressestimmen verraten; „der ‚Kammersänger‘ von Frank Wedekind“ sei „nicht gerade das glänzendste Werk dieses Autors“ [Hugo Gerlach: Thalia-Theater. Letztes Gastspiel des Heine Ensembles. In: Saale-Zeitung, Jg. 36, Nr. 53, 1.2.1900, Abend-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (1)]; „‚Der Kammersänger‘ von Frank Wedekind. Darauf hätten wir lieber verzichtet. Diese Bühnendichtung läßt an Langeweile und Unwahrscheinlichkeit nichts zu wünschen übrig. [...] Der reine Blödsinn von Anfang bis zu Ende. Gespielt wurde [...] vortrefflich.“ [B. Corony: Thalia-Theater. In: General-Anzeiger für Halle und den Saalkreis, Jg. 12, Nr. 27, 2.2.1900, 1. Beilage, S. 5] Entsprechend vorbelastet waren die Erwartungen an die Resonanz auf Wedekinds Einakter in Leipzig, zumal Carl Heine dort Hoffnungen auf berufliche Perspektiven (siehe unten) hatte., weil für ihn der Augenblick hier in LeipzigDie Presse hatte berichtet: „Ein neues Schauspielhaus soll in Leipzig gegründet werden. Eine Vereinigung, die unter dem Namen ‚Leipziger Schauspielhaus-Gesellschaft‘ zusammen getreten ist, will ein neues Schauspielhaus gründen [...]. Wie es heißt, hat man Dr. Carl Heine, den ehemaligen Vorsitzenden der Leipziger Litterarischen Gesellschaft, als Direktor des neuen Theaters in Aussicht genommen. [...] Man hofft in Leipzig von dem neuen Unternehmen eine anregende Rückwirkung auf das dortige Stadt-Theater.“ [Neue Hamburger Zeitung, Jg. 5, Nr. 60, 6.2.1900, Morgen-Ausgabe, S. (2)] Insofern stand Carl Heine bei seinem Gastspiel in Leipzig unter großer Anspannung. „Daß Herr Dr. Heine sich gerade jetzt in Erinnerung bringt, wo er als künftiger Leiter eines sehr nötigen, aber auch sehr problematischen Theaters genannt wird, ist begreiflich.“ [Dr. G.M.: Gastspiel des Dr. Heine-Ensembles. In: Leipziger Volkszeitung, Jg. 7, Nr. 36, 18.2.1900, S. (6)] so kritisch
ist. Gottseidank ist es die letzte der drei VorstellungenCarl Heines Gastspiel mit seinem Ensemble in Leipzig war zunächst auf drei Vorstellungen im Theatersaal des Krystallpalastes angesetzt, wobei „Der Kammersänger“ zuletzt am 14.2.1900 gespielt werden sollte [vgl. Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 68, 7.2.1900, Morgen-Ausgabe, S. 1041], dann wurden es vier. Die erste Vorstellung fand am 12.2.1900 statt (gespielt wurde eine Szene von Marcel Prevost und das Lustspiel „Die Erziehung zur Ehe“ von Otto Erich Hartleben), die zweite am 13.2.1900 („Das Friedensfest“ von Gerhart Hauptmann), die dritte am 14.2.1900 („Der Kammersänger“ zusammen mit „Der Edelknabe und die Müllerin“ von Johann Wolfgang Goethe, „Lotte“ von Hugo Marck und „Ein Liebesroman“ von Marcel Prevost) – „Mittwoch, den 14. Februar 1900: Vorletztes Gastspiel des Dr. Heine-Ensemble: Der Kammersänger. Drei Scenen von Frank Wedekind“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 81, 15.1.1900, Morgen-Ausgabe, S. 1253] – sowie die vierte und letzte („Der Kammersänger“ mit „Ein Liebesroman“ von Marcel Prevost und „Lotte“ von Hugo Marck) am 15.2.1900: „Krystallpalast – Theatersaal. Heute Donnerstag, den 15. Februar 1900: Letztes Gastspiel des Dr. Heine-Ensemble: Der Kammersänger. Drei Scenen von Frank Wedekind.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 94, Nr. 83, 15.1.1900, Morgen-Ausgabe, S. 1283]. Ich werde mich
möglichst im Hintergrund halten. Nutzen kann ich nichts und schaden sehr viel.
Leipzig gefällt mir natürlich sehr gut, und zwar gerade die
Intimitäten. Gestern begrüßte mich mein Gefängniswärternicht identifiziert. Wedekind, wegen Majestätsbeleidigung verurteilt, war mehr als drei Monate im Gefängnis in Leipzig inhaftiert, bis er am 23.8.1899 zum Antritt der Festungshaft nach der Festung Königstein überführt wurde. auf der Straße.
Eigenthümliche Gefühle! Aber auch alles Uebrige, die Straßen, die Häuser und
Menschen, alles wie eine eroberte Provinz. Aehnliche Gefühle beseelen Herrn
Doctor bei seinem hiesigen Gastspiel. Ich habe nun aber auch wirklich lange
genug Trübsal geblasen und die Ohren hängen lassen; der richtige Lebensmuth ist
doch nur ein Ergebnis der Freiheit. Es wird Ihnen nicht gerade leicht sein,
liebe Freundin, die absolute Einsamkeit zu ertragen. Ich hatte, bis ich in
Dresden Ihre lieben Zeilen vorfandWedekind hat das nicht überlieferte Schreiben von Beate Heine (siehe oben) in Dresden vorgefunden, wo er sich nach seiner Haftentlassung am 3.2.1900 die ersten Tage aufhielt., fest darauf gerechnet, wir werden uns
wiedersehen, und zwar unter einiger Behaglichkeit, in der man alles Geschehene
ruhig besprechen kann. An diese Behaglichkeit ist aber auch zwischen Ihrem Mann
und mir nicht zu denken; Hetzerei, Aufregung, bange Erwartung und kaum ein
ruhiges Wort. Immerhin haben ja auch Sie während Ihrer Hamburger Wirksamkeit
eine herbe Schule durch gemacht. Hoffentlich bricht für uns alle bald eine
ruhige Zeit der Beschaulichkeit an, in der wir die Früchte unserer blutigen
Eroberungen genießen können. Wenn ich Sie jetzt auch nicht sehe, sage ich darum
doch auf Wiedersehen in LeipzigWedekind sah Carl Heines nächste berufliche Zukunft in Leipzig.!
Seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem Ihnen dankbar
ergebenen
Frank.