Kennung: 650

München, 5. April 1911 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Sulger-Gebing, Emil

Inhalt

Sehr verehrter Herr ProfessorProf. Dr. Emil Sulger-Gebing, Mitglied des Münchner Zensurbeirats, der Wedekind ein Gutachten zu „Tod und Teufel“ geschrieben hat [vgl. Emil Sulger-Gebing an Wedekind, 3.4.1911].!

Empfangen Sie meinen aufrichtigen herzlichen Dank für die ausführliche Würdigungdie Stellungnahme zu „Tod und Teufel“, Beilage zu dem am Vortag erhaltenen Brief [vgl. Emil Sulger-Gebing an Wedekind, 3.4.1911], wie Wedekind am 4.4.1911 notierte: „Erhalte Gutachten von Prof. Sulger“ [Tb]., die Sie meiner Arbeit zutheil werden lassen. Aus der neuerlichen KonfiskationZunächst waren die beiden Hefte der von Wilhelm Herzog und Paul Cassirer in Berlin herausgegebenen Zeitschrift „Pan“ mit dem Beitrag „Tagebuch des jungen Flaubert“ auf Anweisung des Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow beschlagnahmt worden [vgl. Müller-Feyen 1996, S. 34f.], ein aktueller Zensurfall, über den Wedekind mit Emil Sulger-Gebing, als er ihn am 1.4.1911 – „Besuch bei Prof. Sulger-Gebing in Nymphenburg“ [Tb] – in eigener Sache aufsuchte, gesprochen haben dürfte. Das eine Heft enthält einen ersten Teil von Auszügen aus Reisetagebüchern Gustave Flauberts [vgl. Pan, Jg. 1, Heft 6, 16.1.1911, S. 181-188] sowie eine Satire Alfred Kerrs über das Verhalten der Polizei angesichts der politischen Unruhen in Moabit im Vorjahr [vgl. Pan, Jg. 1, Heft 6, 16.1.1911, S. 189-190] und wurde zuerst konfisziert. Daraufhin erschien in dem aufgrund der Abwesenheit Wilhelm Herzogs wohl allein von Alfred Kerr betreuten nächsten Heft eine Fortsetzung der Tagebücher Flauberts [vgl. Pan, Jg. 1, Heft 7, 1.2.1911, S. 226-234] und Alfred Kerrs Artikel „Jagow, Flaubert, Pan“ [vgl. Pan, Jg. 1, Heft 7, 1.2.1911, S. 217-223], der die Zensurmaßnahme verspottete; auch dieses Heft wurde sogleich verboten und gegen die Herausgeber Wilhelm Herzog und Paul Cassirer ein Strafverfahren wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften eingeleitet. Die Affäre um die Zensurmaßnahmen gegen den „Pan“ (dort auch weiter kommentiert) fand in der Presse einige Resonanz. Da wurde auf Antrag der Polizei das aktuelle Heft des „Pan“ mit Herbert Eulenbergs Beitrag „Brief eines Vaters unserer Zeit“ [vgl. Pan, Jg. 1, Heft 11, 1.4.1911, S. 358-363] vom Amtsgericht Berlin beschlagnahmt (und der Verfasser wegen der angeblich unzüchtigen Schrift verklagt, wobei der Prozess gegen Herbert Eulenberg am 2.9.1911 mit einem Freispruch endete) [vgl. Müller-Feyen 1996, S. 36]. des Pan wegen eines BriefesBei Herbert Eulenbergs von der Zensur beschlagnahmtem Beitrag „Brief eines Vaters unserer Zeit“ im „Pan“ (siehe oben) handelt es sich um einen fiktiven Brief, in dem ein Diplomat zum Studienantritt seines Sohnes diesem in offenen Worten auf dessen Sexualleben anspricht, Geschlechtskrankheiten und Prostitution thematisiert und für einen humanen Umgang des Studenten mit den Sexualpartnerinnen plädiert. Im nächsten Heft des „Pan“ erschien „Ein Protest“ [vgl. Pan, Jg. 1, Heft 12, 6.4.1911, S. 393-395] von Herbert Eulenberg gegen die Zensurmaßnahme sowie ein ihn verteidigender Beitrag „Der denunzierte Dichter“ [vgl. Pan, Jg. 1, Heft 12, 6.4.1911, S. 396-398] von Wilhelm Herzog, in dem die offizielle Begründung für die Beschlagnahmung abgedruckt war. von Herbert Eulenberg glaube ich darauf schließen zu dürfen, daß die deutsche Polizei im Einverständnis gegen die Richtung kämpft, die die Literatur einschlägt, und damit sicherlich nur ihre Pflicht zu erfüllen glaubt. Ich bin aber auch der Überzeugung daß diese Richtung keine vorübergehende Mode bedeutet, sondern im Begriff steht, geistige Wirrnisse aufzuklären, über die die Menschheit | noch nie hinweg gekommen war, daß die Richtung somit zur größeren Selbstständigkeit des menschlichen Geistes beitragen wird. Seit zehn Jahren frage ich mich wie es kommt, daß wir über die PhysologieSchreibversehen, statt: Physiologie. des menschlichen Körpers fast restlos aufgeklärt sind, während wir über die Physiologie der Familie, ihr Entstehen und Vergehen so gut wie nichts positives wissen und auch gar keine Wissenschaft darüber befaßt. Ich halte es nur durch diesen Umstand für erklärlich daß jährlich tausende von Possen SchwänkenAnspielung auf Emil Sulger-Gebings Gutachten (siehe oben), in dem „so mancher nicht verbotene französische Schwank“ und „so manche von der Censur gestattete Schlafzimmer- und Entkleidungsszene in französischen Possen“ [Beilage zu: Emil Sulger-Gebing an Wedekind, 3.4.1911] beanstandet sind, wohingegen Wedekinds „Tod und Teufel“ nicht verboten gehöre. Operetten ihr Glück machen, die sich mit einem stärkeren oder geringeren Ahnen des wirklichen Thatbestandes auf diesem Gebiet herumtummeln. Anderseits heg ich die Überzeugung daß Deutschland auf diesem Gebiet der ganzen kultivierten Welt | voran ist, indem ja die englische und amerikanische Zensur viel strenger als die deutsche arbeitet.

Ich ersuche Sie, sehr geehrter Herr Professor, in diesen Worten keine Anmaßung zu erblicken sondern nur den Wunsch, mich des Vertrauens, das Sie mir schenken würdig zu zeigen.

Darf ich Sie bitten, den Ausdruck meiner größten Hochschätzung entgegenzunehmen.
Ihr ergebener
Frank Wedekind.


München 5.4.11.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 17 x 25 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    5. April 1911 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv J, Nr. 3
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emil Sulger-Gebing, 5.4.1911. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (05.07.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

02.07.2024 22:14